Sprache

Schulze Brüning: Der Verlust der Handschrift würde uns ein Stück weit entwurzeln

Maria-Anna Schulze Brüning hat vor kurzem ein Buch veröffentlicht, das bundesweit große Resonanz hervorgerufen hat. Man redet viel über schulische Lernprobleme, sucht aber wenig nach rationalen, nachhaltigen Lösungen. Manchmal haben solche Probleme mit den Folgen falscher bildungspolitischer Ansätze zu tun, wie zum Beispiel im Fall der seit Langem beklagten gravierenden Handschriftprobleme sehr vieler Schüler. Es ist ein Faktum, dass die Handschrift geringgeschätzt und ihre Vermittlung vernachlässigt wird – mit weitreichenden Folgen für das schulische Lernen und den Fortbestand einer unersetzbaren Kulturtechnik. Dazu haben unterschiedliche Gründe geführt.  Ich habe mit der engagierten Autorin über ihr Buch „Wer nicht schreibt, bleibt dumm – Warum unsere Kinder ohne Handschrift das Denken verlernen“ (Piper, 2017) ein anregungsreiches Gespräch geführt:

Was war der Anlass, ein Buch zum Thema Handschrift zu verfassen? Ist die Handschrift denn nicht etwas Selbstverständliches?

Nein, nicht mehr. Die Handschrift verschwindet schleichend und fast unbemerkt. Im unserem Alltag spielt sie ja auch kaum noch eine Rolle und man glaubt deshalb, sie vernachlässigen zu können. Dabei wird vergessen, dass Kinder mit der Handschrift die Schriftsprache erlernen und dass Kinder und Jugendliche während der gesamten Schulzeit täglich schreiben. Die Handschrift ist ein wichtiges Lernmedium, und diejenigen, die sie nicht richtig gelernt haben, sind im wahrsten Sinne des Wortes gehandicapt. Immer mehr Kinder werden heute durch ihre mangelhafte Schriftkompetenz benachteiligt. Mein Buch soll auf diesen gravierenden Missstand aufmerksam machen.

Wieviel Prozent der Kinder können ganz schlecht schreiben, so dass man ihre Schrift nicht richtig lesen kann?

Das Schriftdesaster ist so groß, dass der Deutsche Lehrerverband 2015 eine Umfrage an Schulen in allen Bundesländern durchgeführt hat. Die Lehrer schätzen, dass 51% der Jungen und 31 % der Mädchen Probleme mit der Handschrift haben, weil sie verkrampft und zu langsam schreiben oder weil ihre Schrift unleserlich ist. 2010 habe ich mehr als 1000 Schriftproben von Fünft-und Sechstklässlern in Hamm (NRW) ausgewertet, mit dem Ergebnis: Jedes sechste Kind hatte eine kaum entzifferbare Handschrift. 87% der Betroffenen waren übrigens Jungen.

Sie sagen, dass die Handschrift in der Grundschule nicht genügend beigebracht wird. Aber das Erlernen der Handschrift steht doch eigentlich zu Beginn der Schulzeit an erster Stelle.

Wenn das noch so wäre, hätten wir heute nicht dieses Problem. Der Handschriftunterricht ist den Prinzipien der spielerischen Selbsttätigkeit und der angeblichen Vereinfachung geopfert worden. Kinder sollen von Anfang an Texte schreiben und sich ausdrücken, und dafür, so glaubt man, reiche zunächst eine Art Lautschrift, die sich die Kinder durch Abmalen von Druckbuchstaben nach einer Lauttabelle aneignen. Dabei machen sie viele Fehler, denn sie halten sich nicht an Bewegungsrichtungen beim Schreiben. So schreiben sie zum Beispiel ein b wie eine 6 und ein d wie eine spiegelverkehrte 6. Schnell sind die falschen Bewegungsrichtungen automatisiert und die Handschrift gerät außer Kontrolle. Man kann bei Fünftklässlern mit Schriftproblemen beobachten, dass sie viele Buchstaben und auch Verbindungen auf geradezu abenteuerliche Art gestalten. Deshalb ist es so wichtig, dass Kinder von Anfang an angeleitet werden, richtig zu schreiben und systematisch zu üben.

 

 

Wann lernen die Kinder denn die Schreibschrift?

Auf jeden Fall meistens zu spät, nämlich dann, wenn die Druckschrift bereits automatisiert ist. Erstschrift und Zweitschrift verhalten sich zueinander wie Muttersprache und Fremdsprache. Mit der Muttersprache verinnerlicht man eine Sicherheit, die man in der Fremdsprache kaum erlangen kann. Es ist also kein Wunder, wenn die meisten Schüler von den Vorteilen der Schreibschrift gar nicht profitieren können und sie später wieder aufgeben. Tragisch ist es, wenn auch die Erstschrift, die Druckschrift nicht richtig gelernt wurde, und alle Fehler dann in die Schreibschrift übertragen werden. Manche Kinder erwerben so weder eine funktionierende Druckschrift noch eine funktionierende Schreibschrift.

Was kann die Politik für eine neue Etablierung des Handschriftunterrichts tun?

Gegenwärtig wird ja das in den Grundschulen vorherrschende Prinzip „Lesen durch Schreiben“, bei dem die Kinder nach Gehör und mit abgemalten Druckbuchstaben schreiben, zunehmend in Frage gestellt. So hat zum Beispiel die neue Ministerin für Schule und Bildung in NRW, Frau Gebauer, eine Überprüfung dieses Konzepts angekündigt. Hoffentlich wird erkannt, dass die Kulturtechnik des Handschreibens und auch die Rechtschreibung allzu oft vollends auf der Strecke bleiben, wenn sie nicht rechtzeitig in den Mittelpunkt des Unterrichts gestellt werden. Das Erlernen der Handschrift muss in der ersten Klasse wieder Priorität gewinnen.

Sie behaupten, dass Tablet und digitale Geräte die Schreibfähigkeit der Kinder beeinträchtigen, und der Untertitel Ihres Buches lautet „Warum unsere Kinder ohne Handschrift das Denken verlernen“. Ist das wirklich so?

Kinder müssen ja zunächst einmal das Schreiben überhaupt lernen und dazu müssen sie Buchstaben im wahrsten Sinne des Wortes begreifen. Am PC wird nur eine Zeigefunktion ausgeübt, die nicht in das Ablaufgedächtnis, ins motorische Gedächtnis eingehen kann. Das Tastaturschreiben ist ein reines Buchstabensuchen mit permanenter Rückvergewisserung auf dem Bildschirm – die Schrift entsteht nicht dort, wo die Berührung stattfindet, und die abgebildeten Großbuchstaben der Tasten erscheinen als andere Zeichen, nämlich als Kleinbuchstaben, wenn keine zusätzlich Taste betätigt wird. So hilfreich die Tastatur für alle, die schon schreiben können, auch ist, für Kinder, die das Schreiben lernen, ist sie ein ausgesprochen kompliziertes Instrument. Wörter als feste Buchstabenverbindungen und geläufiges Schreiben können so kaum entstehen. Das sehen übrigens auch Schüler so, die ich zur Bedeutung der Handschrift befragt habe. Das Schreibenlernen sei ein wichtiger Schritt in der Entwicklung des Kindes, am PC lerne man nie richtig schreiben, beim Handschreiben lerne man die Wörter im Ganzen besser, durch Handschrift lerne man sich auszudrücken und man überdenke viel intensiver, was man schreibt – so äußerten sich viele Schüler. Sie wissen um die Bedeutung des Handschreibens beim Lernen und Gedanken formulieren. Mit der Hand schreibt man bewusster und kann dem Denken mehr Raum geben.

 

 

Die Handschrift ist also in erster Linie für das Schreibenlernen wichtig?

Nein, die Handschrift ist ein Denkwerkzeug, auf das wir trotz PC nicht verzichten, wenn es darum geht, etwas zu strukturieren. Die meisten, die konzeptionell arbeiten tun dies handschriftlich – vom Regisseur bis zum Fußballtrainer. Mit dem Stift auf dem Papier ist man räumlich frei und kann Gedanken und Ideen besser ordnen. Darüber hinaus ist die Handschrift Teil unserer Identität. Sie ist bei jedem einzigartig und deshalb kann unsere Unterschrift unsere Identität bezeugen. Als ich einmal ironisch meinte, es wäre doch gut, wenn unsere Unterschrift bald durch Scanner ersetzt würde, reagierte ein Schüler empört: Aber dann wären wir ja wieder wie die Menschen, die nicht schreiben können. In der Tat würden wir mit der Handschrift ein Stück der Autonomie und Freiheit aufgeben, die sie uns verschafft.

Die Handschrift ist etwas Wesentliches. Sie gehört zum Wesen des Menschen, und darum ist sie auch den Schülern so wichtig. Es ist ihnen keineswegs egal, wie ihre Schrift aussieht, und bei denen, die es dennoch behaupten, handelt es sich fast immer um reine Schutzbehauptungen. Das Interesse der Schüler, ihre Handschrift zu verbessern, ist wider Erwarten sehr groß.

Was für eine Verantwortung tragen die Eltern beim Erlernen der Handschrift? Was können sie tun?

Durch das selbstverantwortete Lernen, das heute propagiert wird, werden Eltern nicht mehr in Lernprozesse einbezogen. Sie werden oft sogar gebeten, sich nicht einzumischen und etwa auf jede Korrektur falsch geschriebener Wörter zu verzichten. Ich meine, Eltern sollen ihr Kind auch fachlich unterstützen. Beim Handschreiben können sie auf all die Dinge gezielt achten, die die Lehrerin nicht bei allen Kindern gleichzeitig im Blick haben kann. Sie können die richtige Stifthaltung, die Dreipunkthaltung (Daumen und Zeigefinger halten den Stift und der Mittelfinger stützt von unten ab.) so lange üben, bis sie wirklich automatisiert ist. Sie können gemeinsam mit ihrem Kind Schwungübungen machen und fließende Bewegungen– Schleifen, Arkaden, Girlanden – großflächig zum Beispiel als Spur im Sand oder auf Tapeten bringen, bevor sie auf Schreibpapier geübt werden. Das Allerwichtigste aber: Sie können dem Kind beim Schreiben zuschauen und falsche Bewegungsrichtungen der Buchstaben sofort erkennen und nachhaltig korrigieren und das Kind auch auf falsche Einordnungen der Buchstaben (bei Jj, Kk, Pp oder Y,y) aufmerksam machen.

Sie befassen sich im ersten Kapitel Ihres Buches mit der Geschichte der Schrift. Warum ist sie für uns interessant?

Die Handschrift ist eine große menschliche Errungenschaft, die sich über Jahrtausende entwickelt hat. In diesem Kapitel konnte nur ein kurzer Abriss der enormen Bedeutung der Handschrift für die menschliche und gesellschaftliche Weiterentwicklung gegeben werden. Gezeigt werden sollte unter anderem, dass das Schreiben und die Handschrift sehr lange nur Privilegierten vorbehalten war und diese Kulturtechnik erst in den letzten beiden Jahrhunderten für jedermann zugängig gemacht wurde. Die Selbstverständlichkeit, schreiben zu können, lässt heute viele vergessen, dass Handschrift ein Kulturgut ist, das nicht nur historische Bedeutung hat, sondern nach wie vor wichtig ist und gelehrt werden muss. Eine Schülerin schrieb in meiner Befragung: Das Handschreiben „ist tief in der Menschheit verwurzelt, und deshalb sollte man es nicht entwöhnen“. Vielleicht kann man es tatsächlich so sagen: Der Verlust der Handschrift würde uns ein Stück weit entwurzeln.

Muhammet Mertek

Letzte Aktualisierung: 7. August 2017
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