Kolumnen

Wenn der Körper Nein sagt

Mulla Nasruddin sucht auf Händen und Knien unter einer Straßenlaterne nach etwas. „Was suchst du?“, fragen ihn seine Nachbarn. Er antwortet: „Meinen Schlüssel.“ Alle Nachbarn beteiligen sich an der Suche, in dem sie jeden Zentimeter des Bodens in der Nähe der Lampe sorgfältig und systematisch absuchen. Keiner findet den Schlüssel. „Warte, Nasruddin“, sagt schließlich einer von ihnen, „wo hast du den Schlüssel denn verloren?“ „In meinem Haus.“ „Und warum suchst du dann hier?“ „Weil ich hier, unter der Laterne, natürlich besser sehen kann.“

Mit dieser berühmten Geschichte in der Sufi-Tradition über den Mullah Nasruddin, einen Narren und Weisen aus dem 12. Jahrhundert, erklärt Dr. Gabor Maté sein Kernanliegen in seinem Buch (Unimedica) sehr treffend. Denn „mit einer Suche vor der Tür, wo es hell ist, können wir den Schlüssel zur Gesundheit nicht finden. Wir müssen im Inneren suchen, wo es dunkel und unergründlich ist.“ Er geht davon aus, dass ein Modell der Ursache-und-Wirkung von Krankheit eine Quelle der Fehlwahrnehmung darstellt. Dieses Modell könne nicht aufzeigen, wie Gesundheit zu Krankheit wird oder wie Krankheit in Gesundheit umgewandelt werden kann.

Es mag einfacher (und finanziell lohnenswerter) sein, einzelne Ursachen wie Mikroorganismen und Gene zu erforschen, aber solange wir eine umfassendere Perspektive ignorieren, werden Krankheiten immer von unbekannter Ätiologie sein. Keine Krankheit hat nur eine einzige Ursache.

Der internationaler Bestseller-Autor Dr. Gabor Maté sucht in seinem Buch „Wenn der Körper Nein sagt“ nach den Ursachen vieler Krankheiten in ihrer Komplexität. Der Untertitel gibt uns Aufschluss über den Inhalt: „Wie verborgener Stress krank macht – und was Sie dagegen tun können“. Maté stützt sich in den 19 Kapiteln des Buches auf wissenschaftliche Forschungsergebnisse und die jahrzehntelange Erfahrung des Autors als praktizierender Arzt. Im letzten Kapitel (19) zeigt er die sieben Prinzipen der Heilung. Ich kann nur die drei verraten: Akzeptanz, Achtsamkeit und Bindung, die sowohl im persönlichen als auch gesellschaftlichen Leben sehr wichtig und stresshemmend sind.

Gibt es überhaupt einen glücklichen Menschen, der in seinem Leben keinen Stress hat? Mit Sicherheit „Nein!“ Der Stress begleitet uns lebenslang. Daher halte ich es für sehr wichtig, dass ein renommierter Fachmann die Auswirkungen von Stress, ob offen oder verborgen, verständlich erläutert.

Hans Selye versteht „Stress als einen biologischen Prozess, eine breit gefächerte Reihe von Ereignissen im Körper, unabhängig von ihrer Größe oder subjektiven Wahrnehmung. Stress besteht aus inneren Veränderungen – sichtbar oder nicht -, die entstehen, wenn der Organismus eine Bedrohung seiner Existenz oder seines Wohlergehens wahrnimmt.“

Welche Komponenten spielen beim Erleben von Stress eine wichtige Rolle? Es sind folgende drei Komponenten. Die erste ist das Ereignis, physisch oder emotional, das der Organismus als bedrohlich einschätzt. Das ist der Stress anregende Stimulus, auch Stressor genannt. Die zweite Komponente ist das verarbeitende System, das dem Stressor ausgesetzt ist und dessen Bedeutung interpretiert. Beim Menschen ist dieses verarbeitende System das Nervensystem, vor allem das Gehirn. Die letzte Komponente ist die Stressreaktion, die aus diversen psychologischen und verhaltensbezogenen Anpassungen besteht, die als Reaktion auf die wahrgenommene Bedrohung vollzogen werden.

Es gibt keinen einheitlichen, universellen Bezug zwischen Stressor und Stressaktion. Jedes Stressereignis steht für sich und wird im Hier und Jetzt erfahren. Die Intensität der Stresserfahrung und ihre Langzeitfolgen hängen von zahlreichen Faktoren ab, die bei jedem Individuum einzigartig sind. Was für jeden Einzelnen von uns Stress bestimmt, ist eine Frage der persönlichen Veranlagung und – vor allem – persönlicher Erfahrungen.

Im Buch werden die Stressfaktoren und ihre Wirkungen durch zahlreiche Studien bewertet und analysiert. Eine kürzlich in Australien durchgeführte Studie wies darauf hin, wie wichtig positive soziale Beziehungen für die Regulierung von Stress sind. 514 Frauen, bei denen eine Brust-Biopsie vorgenommen werden musste, wurden befragt. Bei etwas weniger als der Hälfte der Teilnehmerinnen wurde anschließend Krebs diagnostiziert, bei den anderen gutartige Tumoren. Die Ergebnisse „zeigten eine signifikante Interaktion zwischen hochgradig bedrohlichen Lebensstressoren und soziale Unterstützung. Frauen, bei denen ein objektiv als hochgradig eingestufter Stressor vorlag und die keine vertraute emotionale Unterstützung hatten, waren einem 9-fach erhöhten Risiko ausgesetzt, Brustkrebs zu entwickeln.

In einer anderen Studie wurden z.B. verheiratete Frauen mit der gleichen Anzahl geschiedener oder getrennt lebender Frauen verglichen. In der Gruppe der verheirateten Frauen wurden die Qualität die Ehe und Zufriedenheit anhand von Berichten der Frauen beurteilt. Die Aktivität des Immunsystems wurde mittels Blutproben untersucht, die jeder Teilnehmerin entnommen wurden. Eine geringere Ehequalität war „stark und positiv“ mit einer schlechteren Immunreaktion verbunden.

Frauen, die stärker selbstreguliert waren und emotional weniger abhängig von einer Beziehung, die für sie nicht funktionierte, wiesen stärkere Immunsysteme auf. Ein höheres Maß an Differenzierung ist gleichbedeutend mit besserer Gesundheit. Der schwächere Partner in jeder Beziehung wird einen unverhältnismäßig großen Teil der geteilten Angst absorbieren. Das ist auch der Grund, warum so viel mehr Frauen als Männer wegen Angst oder Depressionen behandelt werden.

Dr. Gabor Maté stellt auch den engen Zusammenhang zwischen Gesundheit und sozialer Umgebung umfassend dar. Dabei sei emotionale Vertrautheit eine psychische und eine biologische Notwendigkeit. Wer Mauern gegen Vertrautheit errichtet, ist nicht selbstreguliert, sondern nur emotional erstarrt. Der Stress durch unbefriedigte Bedürfnisse ist dann groß. Soziale Unterstützung trägt dazu bei, physiologischen Stress zu mindern. In Zeiten der Digitalisierung spielt dies eine immense Rolle, da die sozialen Kontakte zwischen den Menschen immer weniger werden und infolgedessen Kinder oder Jugendliche immer weniger diese emotionale Vertrautheit genießen können.

Die wichtigste Auswirkung auf die Familie im vorherrschenden sozio-ökonomischen System, die durch die dynamisch zunehmende Globalisierung noch beschleunigt wird, ist die Gefährdung der Familienstruktur und das Auseinanderreißen der Verbindungen, die den Menschen früher ein Gefühl von Sinn und Zugehörigkeit vermittelt haben. Kinder verbringen wenige Zeit im Kreis von fürsorglichen Erwachsenen als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte. Sozio-ökonomische Beziehungen haben also einen tiefgreifenden Einfluss auf die Gesundheit.

Auch wirtschaftliche Verhältnisse beeinflussen die Gesundheit, da sich Menschen mit höherem Einkommen ganz ohne Frage eine gesündere Ernährung, bessere Wohn- und Arbeitsbedingungen sowie stressreduzierende Aktivitäten leisten können. „Einer der wichtigsten Lebensumstände, die darüber entscheiden, ob Individuen gesund oder krank werden, ist das Einkommen.“ so Prof. Dennis Raphael.

Die biologischen Voraussetzungen möglicher Krankheiten entstehen früh im Leben. Die Stressreaktionsmechanismen des Gehirns werden durch Erfahrungen, beginnend in der frühen Kindheit, programmiert. Sozial-emotionale Interaktionen beeinflussen die Entwicklung des menschlichen Gehirns entscheidend.

Der Autor macht uns auch mit vielen medizinischen und physiologischen Begriffen vertraut. Wer das Buch liest, wird seinen Körper und seine Seele besser verstehen und bewusster leben. Wenn man die Beziehungen zwischen der Psychologie, dem Gehirn und Nervensystem des Menschen näher kennt, desto besser kann man die Natur der Krankheiten erkennen und dementsprechend leben. So erfährt man z.B., dass das limbische System reift, indem es die emotionellen Botschaften der Eltern „liest“ und integriert.

Auch in Bezug auf die psycho-sozialen Probleme der Gegenwart möchte ich auf den Begriff des proximalen Verlassenseins Aufmerksamkeit schenken. Das Phänomen der physischen Nähe, die aber mit emotionaler Distanz einhergeht, wurde als proximales Verlassensein bezeichnet. Dieses liegt vor, wenn der eingestimmte Kontakt zwischen Elternteil und Kind fehlt oder gestört ist, weil der Elternteil durch Stress von der Interaktion abgehalten wird. Bei proximalem Verlassensein sind die Eltern zwar physisch anwesend, aber emotional abwesend. Solche Eltern-Kind-Interaktionen sind in unserer überforderten Gesellschaft zunehmend die Norm. (S.215) So ist Allan Schore der Ansicht, „dass proximales Verlassensein ein häufig auftretendes und starkes Phänomen in der frühen Persönlichkeitsentwicklung dargestellt.“

Ein anderer wichtiger Begriff ist die Anpassungsfähigkeit. Entscheidend für das Verstehen von Stress, Gesundheit und Krankheit ist das Konzept der Anpassungsfähigkeit. Anpassungsfähigkeit ist die Fähigkeit, ohne Starrheit, mit Flexibilität und Kreativität, ohne übermäßige Angst und ohne von Emotionen überwältigt zu sein auf externe Stressoren zu reagieren. Dr. Michael Kerr beschreibt dies wie folgt: „In hohem Maße anpassungsfähige Menschen und Familien haben im Durchschnitt weniger körperliche Krankheiten, und die Krankheiten, die auftreten, sind eher leicht bis mittelschwer.“

Da Maté alles auf die Erlebnisse des Individuums bezieht, wirken seine Erklärungen für Ursachen und Möglichkeiten der Heilung von unterschiedlichen Krankheiten in psychischer und körperlicher Natur realistisch. Je besser man sich selbst kennt, desto bewusster kann man mit Leib und Seele umgehen.

Letzte Aktualisierung: 30. Dezember 2020
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