Multikulturelle Gesellschaften gab es schon immer in der Geschichte. Da die Gesellschaften von heute mobiler sind als früher, verflechten sich die Kulturen inzwischen aber noch schneller miteinander, sind die Beziehungen zwischen Menschen aus unterschiedlichen Religionen und Kulturen noch intensiver.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage: Sind religiöse Diskurse allein dazu in der Lage, in einer vielfältigen oder jedenfalls nicht homogenen Gesellschaft das friedliche Zusammenleben und das soziale Wohlbehagen ihrer Mitglieder zu sichern?
Unter einer heterogenen Gesellschaft versteht man eine Gesellschaft, zusammengesetzt aus Menschen, die aus unterschiedlichen Ländern der Welt stammen und über unterschiedliche ethnische, religiöse, ideologische oder kulturelle Identitäten verfügen sowie unterschiedliche Lebensstile pflegen: Deutscher, Türke, Kurde, Bosnier, Marokkaner, Russe, Pole, Christ, Muslim, Buddhist, Atheist, Darwinist, Religiöser, Gläubiger, Säkularer, Konservativer, Sozialist, Liberaler, Demokrat, Materialist, Nationalist, Linker, weltlich Orientierter, Alkoholiker, Drogensüchtiger, Reicher, Armer usw. Die Liste ließe sich beliebig fortführen. Ist es nicht eigentlich selbstverständlich, dass in jeder Gesellschaft Menschen leben, die unterschiedliche Ideologien, Meinungen und Lebensstile haben? Gehört diese Unterschiedlichkeit nicht zur Natur des Menschen? Wir leben also mit sehr facettenreichen Menschen zusammen, im Internetzeitalter nicht anders als früher auch, nur vielleicht mit unterschiedlichen Färbungen.
Interessanterweise sind es im Allgemeinen die liberalen und demokratischen Intellektuellen, die die Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verteidigen, während die muslimischen die Religion bzw. den Islam verteidigen oder das Leben insgesamt oft aus der religiösen Perspektive betrachten. Aber auch diese sollten, genau wie die Liberalen und Demokraten, die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit verteidigen und sich damit auseinandersetzen. Zwar ist es normal, wenn sich religiös-sozialisierte Muslime immer wieder mit religiösen Angelegenheiten beschäftigen. Doch auch Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind für das Zusammenleben wichtig.
Durch religiöse Unterweisung oder Erziehung können sich sicherlich einzelne Muslime auf dem Weg der spirituellen Vervollkommnung weiter entwickeln. Das ist überhaupt kein Problem. Aber es ist durchaus möglich, dass sich viele Menschen selbst in islamischen Ländern nicht dafür interessieren, was in solchen Sendungen erzählt wird. Warum? Wir können nicht von allen Menschen in einer Gesellschaft erwarten, dass sie gleichermaßen religiös aufrichtig sind, über die gleiche menschliche und rechtliche Sensibilität verfügen oder gleiche Gefühle und Gedanken hegen. Das wäre völlig utopisch. Die Religion hat sogar für die meisten Menschen in Bezug auf die Grundrechte keinerlei bindende Relevanz.
Ist es daher nicht notwendig, neben den religiös-moralischen Werten auch Werten wie der Rechtsstaatlichkeit, der Verfassung, dem bürgerlichen Bewusstsein und den pluralistischen Auffassungen einer Demokratie genügend Aufmerksamkeit zu schenken und zu versuchen, das Bewusstsein um sie zu stärken? Wir betonen so oft die Werte der islamischen Ethik, aber viele davon werden ja in einer säkularen Gesellschaft wie der deutschen gewürdigt und praktiziert: Arbeitsmoral, Respekt vor den Rechten anderer, das Halten von Versprechen, individuelle Freiheiten etc. Wer möchte, möge den Status quo in Deutschland mit dem eines beliebigen muslimischen Landes vergleichen. Die eigentliche Frage lautet vielmehr: Wenn es um das friedliche Zusammenleben der Menschen oder die eigene Sicherheit geht, liegt dann der Fokus auf der Religion oder auf den rechtstaatlichen Prinzipien? Oder auf beiden gleichzeitig? Natürlich, die Religion beinhaltet auch Werte, die die Grundrechte bejahen. Das stimmt. Aber die religiösen Auffassungen ziehen im Gesellschaftsleben keine strafrechtlichen Sanktionen für alle Mitglieder der Gesellschaft nach sich. Man kann nicht erwarten, dass religiöse Sanktionen von allen Menschen oder Gesellschaftskreisen akzeptiert werden. Das Recht hingegen ist in seinem verfassungsrechtlichen Rahmen für alle bindend.
Der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir sagte in einem Interview in Spiegel: „Kein heiliges Buch steht über der Verfassung!“ Diese Äußerung ist einerseits eine gerechtfertigte Reaktion auf und gegen religiös-fanatische Ansprüche, andererseits kann man sie von einem religiösen Standpunkt aus problematisch sehen. Einigen islamischen Interpretationen zufolge kann sie sogar zum Unglauben führen. Was also tun, wenn die Religion mit der Verfassung, jenem Vertrag für das Zusammenleben der Menschen, über Kreuz liegt? Der Prophet Muhammad hat seinerzeit in Medina kurz nach seiner Auswanderung dorthin nicht etwa versucht, die ihm bis dato von Gott offenbarten Verse durchzusetzen, sondern schloss einen verfassungsrechtlichen Vertrag mit anderen nichtmuslimischen Volksgruppen. Daraus folgt, dass man Religion und Verfassung in ihren jeweiligen Bereichen bewerten sollte. Sie haben unterschiedliche Ordnungsgebiete. Noch klarer wird das, wenn diese Bewertungen im Lichte folgender Fragen gemacht werden: Was für einen Zweck hat die Religion? Für wen ist das Recht gedacht? Wie wichtig ist die Demokratie aus der Perspektive des gesellschaftlichen Lebens? Warum ist die Verfassung notwendig?
Wenn sich etwa 95 Prozent des Korans auf individuelle und soziale Themen konzentriert, ist es indisputabel, dass die religiösen und moralischen Werte einen wichtigen Beitrag zu einem gesunden und ausbalancierten Funktionieren des individuellen und des gesellschaftlichen Lebens leisten. Aber kann man von allen Menschen oder von allen Gesellschaftkreisen, unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, die gleiche religiöse und moralische Sensibilität erwarten? Ist nicht in erster Linie das Rechtsverständnis auf der Grundlage des Grundgesetztes der gemeinsame Nenner, mit dem der Mensch seine Rechte vor denen seiner Mitmenschen schützen kann? Erst danach kommen die ethischen und religiösen Prinzipien, die sich die Gesellschaft konstruktiv aneignen sollte. Offenbar ist es notwendig, dass Muslime in ihrem religiösen und gesellschaftlichen Leben einen Mentalitäts- und Paradigmenwechsel erleben sollten. Dabei können die universellen ethischen Werte, die das gemeinsame Erbe der Menschheit ausmachen, zur Grundlage eines unabdingbaren Rechtsverständnisses werden, sofern sie im Einklang mit den universellen religiösen Werten stehen. In den wenigen Punkten, wo diese religiösen Prinzipien entgegenstehen, kann man gemeinsam nach einem Konsens suchen.
Wenn manche Muslime mit islamischen Referenzen bei jeder Gelegenheit und auf unterschiedlichen Plattformen immer wieder den Islam ins Feld führen, schüren sie damit zwangsläufig vor allem Skepsis und Misstrauen. Sie sorgen dafür, dass die Auffassung entsteht, dass der Mensch dem Islam zufolge ein rein religiöses Wesen ist. In Wirklichkeit aber ist es doch das Menschsein, das unsere primäre Identität ausmacht. Erst dann kommen die ethnischen und religiösen Identitäten. Also sollten zunächst einmal das Rechtssystem und der verfassungsrechtliche Vertrag für jeden Menschen bindend sein. Hier fehlt bei den meisten Muslimen aber eine aufrichtige und prinzipientreue Haltung gegenüber allen. Wenn wir behaupten, dass die Demokratie gut ist, dann müssen wir demokratisch handeln. Wenn wir behaupten, dass das Recht wertvoll ist, dann müssen wir gerecht sein. Wenn wir behaupten, dass die Religion wichtig ist, dann dürfen wir auf die moralischen Werte nicht verzichten.
Wäre es nicht sinnvoller und ertragreicher, sich in bestimmtem Maße immer auch die Demokratie, das Grundgesetz, die ethischen Prinzipien und das Staatsrecht vor Augen zu führen, anstatt bei jeder Gelegenheit die Ereignisse nur mit religiösen Äußerungen zu erklären oder diese zumindest stets hervorzuheben? So könnte man vielleicht auch verhindern, dass die Religion relativiert und entwertet und damit auch degradiert wird. Denn der Glaube bietet Freiräume an, die vom Menschen missbraucht werden können. Das ist in allen islamischen Ländern zu sehen, und auch die Terrorgruppen nutzen diesen Umstand sehr stark aus. Die Religion kann und soll in ihrer ganzen Erhabenheit auch weiterhin ihren Beitrag zu den Themenbereichen Mensch, Recht, Moral und Nutzbarmachung der Schöpfung leisten. Aber in der Praxis des sozialen Lebens sind die (verfassungs-)rechtlichen Prinzipien bindend, sodass sie nur in einem demokratischen Rechtsstaat angewendet werden können. Verglichen mit einem entwickelten demokratischen Rechtsstaat wie Deutschland sind die muslimischen Gesellschaften nicht in der Position, einen Anspruch auf Tugenden wie Rechtsbewusstsein, demokratische Erziehung, Ethik und Arbeitsmoral zu erheben. Aber wenn wir akzeptieren, dass die soziale und wirtschaftliche Entwicklung der muslimischen Gesellschaften der oft heftig kritisierten westlichen Gesellschaften hinterher hinkt, dann sollten diese Gesellschaften und die Muslime diese Fakten zur Kenntnis nehmen und versuchen, ihnen in diesen Punkten nachzueifern und dasselbe Niveau zu erreichen.
An dieser Stelle möchte ich einen Punkt unterstreichen: Allgemein gesprochen adressiert die Religion in erster Linie das Individuum, während das Recht den Staat adressiert und die Demokratie die Gesellschaft. Die drei Komponenten sind aber nicht voneinander getrennt, sondern ineinander verzahnt, sie unterstützen sich gegenseitig. Daher dürfte es kaum realistisch sein, alle islamischen Prinzipien in eine Verfassung gießen zu wollen. Die Religion umfasst die Beziehungen zwischen Mensch, Universum und Schöpfer mit all ihren Dimensionen. Würde es also Sinn machen, sie auf eine Rechtsgrundlage zu reduzieren? Natürlich nicht. Kann es dann aus islamischer Perspektive überhaupt so etwas wie einen „Gottesstaat“ geben? Genauso wenig. Wie lange soll die Demokratie für Muslime noch ein Luxus bleiben? Die Muslime sollten sich mit diesen Fragen intensiv auseinandersetzen. Denn die westliche Öffentlichkeit erwartet klare Antworten von ihnen.
Das Rad neu zu erfinden ist ja gar nicht nötig. Man braucht ein pluralistisches, partizipatorisches Demokratieverständnis, moralische Prinzipien, eine Basis wie Rechtsstaatlichkeit und Grundgesetz, womit alle Menschen als gleichberechtigte, gleichgestellte Bürger verantwortungsvoll zusammenleben können und die Gesellschaft zusammenhalten kann. Doch leider ist es insbesondere in muslimischen Kreisen und Gesellschaften und Ländern, in denen das Muslimsein stets (rhetorisch) in den Vordergrund gestellt wird, damit nicht weither. Eines der größten Handicaps der Muslime ist, dass immer noch geglaubt wird, dass die religiösen Ansichten Probleme aller Menschen gleichermaßen lösen werden. In Deutschland leben Menschen aus verschiedenen Kulturen unter der Gewähr des Grundgesetzes in Frieden zusammen. Hier spielen mit großem Anteil die bestehende politische Kultur und die pluralistische Rechtsstaatlichkeit eine wichtige Rolle. Rechte, demokratische Prinzipien, Verhandlungsformen werden rational und klar definiert, bis in die kleinsten gesellschaftlichen Strukturen wie zum Beispiel eine Vereinsführung hinein. Die Menschen leben auf der Grundlage des Rechts mit einem Gefühl der Sicherheit vor Schädigungen oder Gefahren, die ihnen von anderen Menschen drohen könnten.
Indessen können religiöse Auffassungen bei der Mobilisierung der Menschen in bestimmte Richtungen eine motivierende Rolle spielen. Natürlich kann die Gesellschaft von der motivierenden oder abschreckenden Macht der Religion profitieren. Sie kann die Mitglieder der Gesellschaft anleiten, ein guter Mensch zu werden, soziale Verantwortung und ein Umweltbewusstsein, Respekt vor dem Recht des Mitmenschen und ein Gerechtigkeitsgefühl zu entwickeln und sie kann sie vor Unrecht schützen. Aber im Alltag müssen Recht und Gerechtigkeit funktionieren, und die Menschenrechte müssen in jeder Hinsicht geschützt und gewährt werden. Also braucht man unbedingt eine Basis, auf der alle Menschen gleichberechtigt sind und sich frei äußern können. Dies gewährt nur die Rechtsstaatlichkeit. Dass Menschen in einer Gesellschaft ohne Angst und Sorge leben, lässt sich nur auf dieser Grundlage verwirklichen.
Aber wer und was wird dann die Menschen vor denjenigen schützen, die diese Prinzipien für ihre egoistischen Interessen ausnutzen und Unrecht tun? Wie kann man dann verhindern, dass Menschen in bestimmten Positionen unrechtmäßig Macht ausüben oder unter dem Deckmantel der Religion unrechtmäßig handeln? Natürlich kann man die Dynamik und die Bedeutung des Islams nicht ignorieren – für ein harmonisches soziales Leben, für die zwischenmenschlichen Beziehungen, für ein sinnvolles Leben, für die Vervollkommnung des Individuums etc. Und in dem Maße, wie die Muslime ihre Religion gut und richtig vorleben, wird sich dies auch positiv auf das gesellschaftliche Leben auswirken.
Was die Muslime schnellstens angehen müssen, ist die Diskrepanz zwischen den Werten, die sie für sich wünschen, und der Realität. Viele Muslime verfügen über eine ‚Überlegenheitspsyche‘ und sind überzeugt, dass nur der Islam alle Probleme der Menschen lösen wird und dass man nur mit dieser Religion glücklich werden kann. Aber auf der Welt leben ja Millionen von Menschen mit unterschiedlichstem Glauben, die glücklich sind. Und in den entwickelten westlichen Gesellschaften existiert darüber hinaus auch eine Zivilisation, in der u.a. auch viele Atheisten leben und viele ethische Einstellungen nebeneinanderstehen, in der der Mensch im Mittelpunkt steht und ebenfalls viele Menschen glücklich sind. Auch wir profitieren gern von den Früchten dieser Zivilisation, weil sie uns das Leben leichter machen. Insgesamt sind diese Länder in Fragen der Menschenrechte und Freiheiten weit fortgeschritten. Gelänge es doch auch den muslimischen Ländern, konstruktiv eine so menschliche Basis wie die, die durch die Praxis der Verfassung zum Beispiel in Deutschland und Amerika und die ethische Mentalität dieser Gesellschaften entstanden sind, ins Leben zu rufen!
Zusammengefasst: Neben dem Festhalten an universellen religiösen Werten, die bei der Lösung der individuellen und sozialen Probleme des Menschen zweifelsohne eine bedeutende Rolle spielen, sollte man sich auch endlich bemühen, eine pluralistische und partizipatorische Demokratieauffassung in die Praxis umzusetzen, die lebenswichtige Bedeutung der (verfassungs-)rechtlichen Basis betonen und die allgemein verbindlichen ethischen Prinzipien aufrichtig praktizieren. Nur so werden sich positive, nachhaltige Ergebnisse im gesellschaftlichen Leben erzielen lassen. Wir Muslime sind immer noch weit entfernt von dem menschlichen Standpunkt, dass man den Menschen in seinem Sosein anerkennen sollte.
Weder mit Religion noch mit Moral kann legitimiert werden, dass Hasskörner in die Gesellschaft gesät und Andersdenkende mit der Rhetorik des Hasses dämonisiert werden.
Aber die Hoffnung stirbt zuletzt. Wir haben noch eine Chance in der islamischen Welt. Warum sollte sich dies nicht realisieren lassen, wenn die Chance durch umsichtige Bildungsaktivitäten effektiv genutzt wird, in den muslimischen Gesellschaften eine an universellen Werten orientierte humane Kultur zu entfachen; gerade heute, wo die Welt wieder einmal in Hass, Blut und Schießpulver gehüllt ist. Das heißt, eine Kultur der Gewaltlosigkeit; eine Kultur, die die freiheitlichen und ethischen Prinzipien ohne Wenn und Aber verteidigt; eine Kultur, die sich für den gesellschaftlichen Frieden die Verfassung und die Rechtsstaatlichkeit als Basis wählt; eine Kultur, in der Herz und Vernunft Hand in Hand gehen; eine Kultur, die offen für Pluralismus und Demokratie ist.
Vor allem junge Muslime verfügen über die notwendige Dynamik, einen Mentalitätswandel und Paradigmenwechsel in Gang zu setzen und ein universelles ethisches und demokratisches Verständnis zu verinnerlichen. Wenn Muslime in ihren Bildungsinstitutionen damit erfolgreich sind, werden sie ihre eigentliche Aufgabe erfüllt haben. Und dabei können insbesondere muslimische Jugendliche, die heute in westlich-demokratischen Rechtsstaaten mit diesen Werten sozialisiert sind, eine Vorreiterrolle spielen. Und im Namen der Muslime scheint dies eine Hoffnung zu sein.