Gesellschaft

Ist Islam in der Krise?

Kriege und Konflikte verursachten im Verlaufe der Geschichte nicht nur Vernichtung, sondern führten auch zu großen Umbrüche und Entwicklungen. Muslime jedoch fokussierten sich auf die Eroberungen und konnten sich leider in Friedenszeiten in wissenschaftlichen, philosophischen und kulturellen Bereichen nicht erneuern.

Das Buch von Michael Blume „Islam in der Krise – Eine Weltreligion zwischen Radikalisierung und stillem Rückzug“ (Patmos Verlag), das ganz frisch auf den Markt gekommen und in wenigen Tagen ausverkauft war, und jetzt in der zweiten Auflage wieder erhältlich ist, halte ich daher für wichtig.

Die Debatte, dass sich der Islam in einer Krise befindet, sind nicht neu. In der Frühzeit, wo die Kharidschiten die Bühne der Weltgeschichte betraten, war die Krise politischer Natur, im 9. und 10. Jahrhundert philosophischer Natur, so dass diese dank der Gelehrten wie Imam Maturidi, Al-Aschari und Al-Gazzali bekämpft werden konnte, und in den letzten Jahrhunderten soziokultureller Natur.

Muslimen war es gelungen, in der ersten tausendjährigen Geschichte des Islams viele existenzielle Krisen und große Herausforderungen zu überstehen. Denn die Werte, die sie besaßen, waren im Vergleich zu denen anderer Gesellschaften entwickelter und dynamischer. So erlebte das Osmanische Reich im 16. Jahrhundert seine „Goldene Zeit“ und zahlte auch einen teuren Preis in den kommenden 200 Jahren wegen seines Hochmuts gegenüber dem wissenschaftlichen Errungenschaften und Reformbewegungen. Michael Blume schreibt in seinem Buch, dass die Lese- und Schreibquote im Osmanischen Reich um das Jahr 1800 nur noch 2-3 Prozent betrug. Und der wesentliche Grund für diese Krise des Islams ist ihm zufolge auf das Buchdruckverbot im Jahr 1485 zurückzuführen.

Doch auch in Europa herrschten Kriege, die stets von Generation zu Generation um die 30 Jahre, mitunter auch nur sieben Jahre lang dauerten. Die grausame Dimension der zwei Weltkriege im vergangenen Jahrhundert zeigt deren schier für unvorstellbar gehaltenes zerstörerisches Ausmaß in jeder Hinsicht. Und hier unterscheidet sich auch die europäische Erfahrung von denen der Muslime: Unter den Kriegen und Krisen erlebten die Europäer auch die wissenschaftlichen Errungenschaften und soziale Umbrüche wie die Renaissance, die Erfindung und Verbreitung der Druckerei, die Reformation, die Aufklärung, die Französische Revolution, die Industrierevolution, etc.. Aber die muslimische Welt war weit davon entfernt oder war und ist auch bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt immer noch nicht in der Lage, sich mit diesen Entwicklungen auseinanderzusetzen, daraus Lehren zu ziehen und sich entsprechend auch zu erneuern.

Wirft man nur auf die Erfindung der Druckerei einen Blick, die als eine der wichtigsten Entwicklungen nach der Erfindung der Schrift in der Menschheitsgeschichte zählt, so stellt Blume mit überzeugenden Argumenten dar, wie jene Maschine in Europa eine wichtige Rolle gespielt hat und wie sich die Osmanen dagegen gewehrt und das Buchdruckverbot erlassen haben: „Doch aus Sicht des Sultans und der mit ihm verbundenen islamischen Gelehrten – der Ulema – gab es auch gewichtige Einwände gegen diese aus ihrer Sicht scheinbar seltsame Maschine. Seit der Niederschrift des Korans galt das sorgfältige Schreiben und lesende Rezitieren arabischer Zeichen als geheiligte Tätigkeit, die eine jahrelange Ausbildung voraussetzte. Auch wurden wichtige Überlieferungen und Nachrichten mündlich weitergegeben und in jedem Dorf kannte man jene Weisen, deren Wort besondere Glaubwürdigkeit besaß. Entwertete die massenhafte Vervielfältigung gedruckter Texte nicht all diese wichtigen Ämte – und bedrohte damit auch die erfolgreichen Stützen des Islams und des Osmanischen Reiches? Und wenn massenhaft Schriftwerke auf die Märkte gedrungen wären – wer hätte ihre Inhalte kontrollieren und die Ausbreitung falscher oder gar gefährlicher Texte verhindern können? Warum sollte ein offensichtlich blühendes Weltreich sich solchen Stürmen aussetzen? So traf Sultan Bayazid II. um 1485 eine der verhängnisvollsten Fehlentscheidungen der Weltgeschichte, die 1515 von seinem Sohn und Nachfolger Sultan (später Kalif) Selim I. (1470-1520) bestätigt wurde und in die gesamte islamische Welt ausstrahlte: das Verbot des Drucks arabischer Lettern; es galt als Verbrechen, auf das gar die Todesstrafe stand.“ (S. 55-56)

Solche Entwicklungen unter Muslimen sind auch eine Folge davon, dass sie historische und gesellschaftliche Prozesse in Europa nicht erlebt und selbst erfahren haben. Leider neige ich immer mehr dazu, dass erst große Katastrophen besonnene Einsichten mit sich bringen.

Es ist daher sinnvoll, dass man die von Michael Blume aufgelisteten Gründe einer tiefen Krise, in welcher sich der Islam zwischen der Radikalisierung und stillem Rückzug befindet, genau in diesen oben genannten Perspektiven sucht.

So zeigt schon die Zusammenstellung der Begriffe im ersten Teil des Buches die politische und philosophische Dimension der Krise, die seit 1400 Jahren nicht gelöst werden konnte: Murtad (Abgefallene), Bid’a (Neuerung), Takfir (Beschuldigung anderer Muslime, vom Islam abgefallen zu sein), Murtaddun (Abtrünnige), Kuffar (Unglaubige), Taghut (Ausdruck des Bösen), Dar al-kufr (Haus des Unglaubens). Der Islam ist immer noch der Gefangene der Diskussionen im Rahmen dieses Begriffsnetz.

Selbstverständlich hat die Radikalisierung vielfältige Ursachen, wie soziale und wirtschaftliche Aspekte, aber auch die großen Sünden der Kolonialmächte darf hier nicht verschwiegen werden. Letztendlich müssen sich Muslime in der Gesellschaft, in der sie leben, selbst mit all diesen Problemen auseinandersetzen.

Von Frühzeit bis zur Gegenwart sind die Radikalisierungstendenzen fast gleicher Natur: Unwissenheit, Armut und Angst. Daher ist es sehr zutreffend, dass Michael Blume die Bildung zur Lösung der Krise erklärt. Aber erst dann, wenn die Bildung zu einer Staatspolitik wird, wird sie sich im sozialen und politischen Leben widerspiegeln und nachhaltig sein. Außerdem sollte man auch von den Werten wie demokratische Prinzipien, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, universelle Ethik und Pluralismus, wofür Europa bereits einen großen Preis gezahlt hat, Nutzen ziehen. Solange man es nicht tut, wird es sehr schwierig sein, aus der Krise herauszukommen.

Michael Blume stellt die Krise des Islams aus vielen Perspektiven fundiert dar und fokussiert sich vor allem den Bildungsaspekt, widmet sich anschließend auch den sozialen und kulturellen Aspekten der Krise, verweist auf Verschwörungstheorien sowie auf unterschiedliche Faktoren für die Gewaltanwendung hin. Er unterstreicht deutlich, wie der Islam nicht als eine gelebte Religion, sondern als eine Ideologie wahrgenommen wird. Die Folge ist, dass der Islam in diesem Sinne blutet. Hinter der Tatsache, dass viele Muslime ihrer Religion den Rücken kehren, versteckt sich auch die zuvor angesprochene Radikalisierung, denn sie bedingen als Gegenpole einander.

Generell setzt sich Blume mit den Ursachen sowohl vom kulturellen Niedergang des Islams als auch vom Blutvergießen der radikalen Gruppen tiefgründig, klug und mit gutem Willen auseinander. Damit öffnet er viele Punkte zur Diskussion, worüber es sich nachzudenken lohnt. Deswegen verdient er eine große Danksagung und Gratulation.

Dass der Islam viele universelle Werte besitzt, die ihn auch zur Weltreligion werden ließen, reicht anscheinend nicht mehr aus. Problematisch war, dass die Muslime, seit 400 Jahren die wissenschaftlichen, technischen, sozialen und politischen Entwicklungen und Fortschritte Europas außer Acht gelassen haben. Und sie glaubten, dass sie nur mit einer traditionellen islamischen Auffassung die bestehenden Herausforderungen meistern könnten. Das war ein großer Irrtum. Wenn man will, dass man von den Krisen verschont bleibt, ohne mit großen Katastrophen, die Europa beispielsweise erleben, erleiden und erdulden musste, konfrontiert zu werden, muss man unbedingt von den Erfahrungen anderer Nutzen ziehen. Nun bleibt zu hoffen, dass Muslime nach so vielen Krisen in der Geschichte die Ereignisse gut deuten, von ihnen nötige Lehre ziehen sowie einen positiven Beitrag zum Weltfrieden leisten werden.

In einem Ausspruch (Hadith) des Propheten heißt es: „Der Islam kam zweifelsohne einsam, und eines Tages wird er wieder unverstanden bleiben. Wohl denen, die als unbeachtet ihren Glauben leben!“ (Muslim)

Der Satz „Wohl denen, die als unbeachtet ihren Glauben leben!“ impliziert eine frohe Botschaft. Fremdsein heißt, dass man sich in der Fremde fühlt und unverstanden bleibt sowie nicht wertgeschätzt wird. Unter „eines Tages“ kann man für sich jene Zeit wahrnehmen, in der ein jeder Mensch allgemein lebt. Aber der Islam ist so eine Religion, die von seinem Anbeginn bis unserer Gegenwart in ihrer historischen Zeitreise einige Male unverstanden geblieben oder sogar falsch verstanden ist. Da Muslime besonders im Mittelalter in einer besseren Position als der Gegenwärtigen sowie zu anderen Zeiten ihrer Geschichte waren, ließ sich dies nicht spüren. Die kulturellen Zentren wie Andalusien, Samarkand, Bagdad und die Jahrhunderte lang dauernde Friedensatmosphäre in den Balkanländern gehören zu den wichtigsten Beiträgen der Muslime in der Weltgeschichte.

Kurzum: Um aus der gegenwärtigen vielseitigen Krise des Islams herauszukommen, hängt davon ab, ob es Muslimen gelingen wird, dass sie ihren Glauben aus den Händen der politisierten und fundamentalistischen Gruppen zurückholen und ihr Muslimsein mit universellen Erfahrungen und Werten vereinbar leben und gestalten werden können.

Muhammet Mertek

Letzte Aktualisierung: 1. Oktober 2017
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