Gesellschaft

Putin in der Falle des eigenen Wahns

Wieder sind wir in der traurigen Situation, einen Invasionskrieg live im Fernsehen anzuschauen zu müssen. Es ist, als würde man sich einen Horrorfilm ansehen. Trotz der Distanz und Sicherheit, die uns der Bildschirm suggeriert: die Bomben, Panzer, Krieger, zerstörte Städte, getötete Zivilisten, verzweifelte Flüchtlinge, Frauen und Kinder in Bunkern und U-Bahn-Schächten sind real! Diese bittere Wahrheit hat uns plötzlich in eine andere Welt befördert, in der nichts mehr ist wie es war. Ich hoffe, dass die Ordnung der Welt nicht noch tiefer zerstört wird und es der letzte Horrorfilm sein wird, der live zu sehen ist. Wer Krieg anzettelt und davon Vorteile erhofft, soll selbst daran zugrunde gehen.

Putin und Selenskyj sind die beiden zentralen Akteure. Der eine ist der Aggressor, der das Recht der Staaten und der Menschlichkeit missachtet, und der andere ist der Held, der sein Land und Volk um jeden Preis verteidigt. Zwei unterschiedliche Bilder des Kriegspanoramas prägen sich ein: Das eine besteht aus unvorstellbaren Manipulationen, Lügen und Desinformationen durch einen despotischen Geist und das andere aus todbringender Invasion, dystopisch zerstörten Städten und unschuldigen Menschen, die gezwungen sind, ihre Heimat unter Tränen und Leid zu verlassen. Wir werden selbst entscheiden, welches Bild unsere Perspektive bestimmen wird.

Wieder erleben wir einen blutigen Krieg: Einen tapferen Freiheitskampf eines mutigen Volkes, das seine Stärke aus seiner Identität bezieht, gegen eine brutale und aggressive Macht, die versucht, in ein unabhängiges Land einzudringen. Der einzige Unterschied zu seinen Vorbildern in der Geschichte sind nur der Ort und die Akteure…

Putin und sein Staat erinnern mich an die Romulus-Figur Dürrenmatts. Obwohl es keinen komödiantischen Aspekt des Krieges gibt, stellen einige literarische Werke die Verbindungen zwischen Komödie und Tragödie sehr wohl her. So gibt es die Rolle des Komikers, der aufs Schärfste Stellung bezieht gegen den Krieg, weil dieser nur Zerstörung und Unheil bringt, und der dann die Anerkennung der Welt gewinnt. 

Friedrich Dürrenmatt gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur. Die Hauptthemen in seinen Werken sind Ungerechtigkeit, Chaos und Unordnung.

Die Komödie „Romulus der Große“, die er vor seinem bekannten Drama „Die Physiker“ verfasst hat, enthält Perspektiven, die an einen sinnlosen oder sonnvollen Krieg erinnern.

Das Thema seines Werkes ist folgendes: Das Römische Reich ist ein Imperium, das auf den Leichen Tausender unschuldiger Menschen errichtet wurde. Romulus erklärt sich selbst zum Richter, um dieses Imperium zu bestrafen. Er glaubt an den Frieden und die menschliche Liebe. Er wird Kaiser, um den Zusammenbruch des Römischen Reiches herbeizuführen und zu beschleunigen. Da er sich nicht bewusst ist, dass in Zukunft noch viele weitere solcher Imperien errichtet werden, erwägt er, sich als letzter römischer Kaiser zu opfern.

In den frühen Morgenstunden des 15. März 476 erreicht Romulus eine Nachricht. Dieser Nachricht zufolge haben die germanischen Truppen unter dem Kommando von König Odoaker die römischen Truppen besiegt und zerstreut und rücken in Richtung Rom vor. In wenigen Stunden wird Odoaker in Romulus‘ Villa in Campana ankommen, die er als sein Zuhause und seine Hühnerfarm nutzt. Aber Romulus ist äußerst entspannt und macht sich keine Sorgen über diese Nachricht. Er verbringt den Tag damit, sich um seine Hühner zu kümmern. Seine Frau Julia, seine Tochter Rea, der oströmische Kaiser Zeno, der römische Adlige Emilian und der Geschäftsmann Cesar können Romulus nicht zum Kampf überreden. Beim Versuch, mit einem Floß nach Sizilien zu fliehen, ertrinken sie alle.

Romulus bleibt allein auf der Farm der Villa. Einen Tag später trifft er dort auf die Germanen. Jetzt wartet er darauf, getötet zu werden. Doch es geschieht etwas Unerwartetes. Odoaker flüchtet zu Romulus, den er seit Jahren bewundert, geschweige denn ihn zu töten, und bittet ihn, sein eigenes Reich zusammen mit Rom zu führen. Da er diese Bitte jedoch ablehnt, schickt er Romulus in den Ruhestand.

In dieser historischen Komödie von Dürrenmatt aus dem Jahr 1949 wird Romulus zunächst als böser Kaiser vorgestellt. Es wird betont, dass er den Thron verlassen soll. Später verurteilt er die Welt, aber im Finale kann er sich der Verurteilung der Welt über ihn nicht entziehen. Tatsächlich enthält die Komödie viele Widersprüche. Wenn jemand gut ist, warum sollte er dann versuchen, sein eigenes Reich zu zerstören? Ist dies verwerflich hier in Rom oder auf der ganzen Welt? Selbst wenn er Rom zerstört, indem er sich selbst opfert, wird der Gerechtigkeit Genüge getan? Ist Romulus wirklich ein Verrückter, der das Imperium zerstört, oder ein Weiser als Weltrichter? Er zeigt auch eine zynische Haltung gegenüber den Ereignissen und Menschen um ihn herum, mit einer ruhigen, gleichgültigen Persönlichkeit, die sich um nichts kümmert. Es ist ersichtlich, dass er mit seiner Persönlichkeit und der Rolle, die er spielte, den Zusammenbruch des bereits zusammenbrechenden Römischen Reiches beschleunigte.

Romulus versuchte bewusst und mit Absicht, sein Reich zu zerstören, da es auf den Leichen Tausender unschuldiger Menschen errichtet wurde. Dies tut Putin faktisch, wohingegen er nicht sieht oder sehen will, dass sein Land bereits auf Millionen Leichen gegründet wurde. Nun fügt er willentlich und bewusst weitere Tausenden Leichen hinzu und zerstört langfristig sein Land. Ich möchte hier keine Parallele zwischen Putin und Romulus ziehen, sondern nur einige Denkanstöße geben.

Während er von einem großen Imperium im ehemaligen Hinterland der Sowjetunion träumt, die auf den Leichen von Millionen unschuldiger Menschen gegründet ist, wird er gewiss alles verlieren, was er zu Hause hat. Während er daran dachte, die entwickelte Welt zu verurteilen, wird er bereits von der Welt verurteilt. Wenn Liebe zu Heimat, Staat und Macht über die Liebe zum Menschen gestellt werde, dann ist Gewalt und Grausamkeit Tür und Tor geöffnet. Trotz vieler Beispiele in der Geschichte ist dieses Abenteuer von Putin unsinnig und im wahrsten Sinne des Wortes wahnsinnig.

Egal wie weise und selbstlos Romulus und Odoaker auch sein mögen, sie können es nicht schaffen, die Welt zu retten. Als Romulus im Ruhestand leben musste, klingen folgende aussagekräftige Sätze, in denen er seine eigene Situation mit Odoaker bewertet, sehr interessant: „Mein lieber Odoaker, ich wollte Schicksal spielen und du wolltest das deine vermeiden. Und nun ist es unser Schicksal geworden, gescheiterte Politiker darzustellen.“

Es ist verständlich, dass Dürretmatt zu einer Zeit, als die schmerzhaften und verheerenden Narben des Krieges noch frisch waren, Romulus diese resignierenden Worte in den Mund legte. Man kann mutlos werden, wenn man sieht, dass angesichts der Angriffe auf die Menschheit nichts zu ändern ist und dass nichts getan werden kann.

Universelle Werte wie Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaat und Freiheiten als gemeinsame Erfahrung der Menschheit haben sich bereits weit entwickelt. Gesellschaften unter der Herrschaft von Despoten sind dazu verdammt, ohne diese Werte zu leben. Putin und seinesgleichen zerstören ungerecht, unnötig und unverantwortlich neben ihren Gesellschaften auch die Nachbarländer. Aber nun ist es ist eine neue Entwicklung, dass die zivilisierte Welt, geeint auf der Grundlage von Demokratie und Menschenrechten, Despoten gemeinsam und mit vereinter Kraft mit ernsthaften Folgen verurteilt.

Der tapfere Freiheitskampf der Ukrainer gegen einen blutdürstigen Despoten, dessen Seele vom Hybris-Virus infiziert ist, und gegen seine gigantische Militärmacht wird noch viele unerwarteten Wendungen nehmen. Hoffen wir, dass es nicht nur böse Überraschungen sein werden.

Muhammet Mertek

Letzte Aktualisierung: 11. März 2022
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