Erziehung & Bildung Gesellschaft

Wenn sich alles um Islam dreht!

„Runder Tisch“ ist eine zivilgesellschaftliche Plattform der Stadt Hamm. Die Mitglieder kommen aus öffentlichen Einrichtungen, politischen Parteien, Kirchen und verschiedenen Vereinen. Nahezu alle gesellschaftlichen Gruppen sind vertreten. Die Plattform wurde im Jahr 2000 unter dem Dach der Stadtverwaltung gegründet, um in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein für Radikalismus, Rassismus und Gewalt zu schaffen und entsprechende Aktivitäten durchzuführen.

In einer Sitzung erwähnte z.B. der Polizeipräsident der Stadt einige Projekte zur Stärkung der demokratischen Widerstandsfähigkeit der Polizei und zur Sensibilisierung für Rassismus und Radikalismus.

Warum erzähle ich davon? Bei regelmäßigen Treffen bringt niemand, noch nicht einmal die Vertreter der Kirchen, das Thema sofort auf die Bibel, religiöse Diskurse, Gott oder die christliche Religion. Niemand bringt die Religion zur Sprache oder stellt sie in den Mittelpunkt, um eigene Ideen mit religiösen Bezügen zu untermauern. Zudem besteht es keine Notwendigkeit, die religiöse Identität, falls vorhanden, hervorzuheben, und die Menschen meiden es sogar. Vertreter verschiedener Organisationen und Institutionen mit unterschiedlichen religiösen Identitäten und Weltanschauungen kommen in einer demokratischen Atmosphäre an diesem Tisch zusammen, um zivilgesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen und konstruktiv über das jeweilige Thema zu diskutieren. Die Tagesordnungspunkte werden auf Augenhöhe im demokratischen Rahmen diskutiert und gemeinsam entschieden, sodass konstruktive Ergebnisse erzielt werden.

Nach der Schilderung dieser Erfahrung kann ich nun meine Frage in Ruhe stellen: Warum können Muslime eine solche Plattform, eine solche Ethik und menschliche Beziehungsqualität in Diskussionen nicht an den Tag legen? Warum wird fast alles mit Religion vermischt? Oder warum wird Religion in alles hineingezogen? Wieso wird bei jeder Gelegenheit sofort auf religiöse Referenzen zurückgegriffen, indem man sagt: „Das steht so im Koran“, „Allah gebietet so und so“ oder „In einem Hadith sagt der Prophet Muhammad das und dies“? Ja, warum? Fällt diese einseitige und dogmatische Herangehensweise der Muslime nur mir auf? Es gibt anscheinend ein Religionsverständnis, das ohne eine ethische, ästhetische, intellektuelle und spirituelle Tiefe auskommt, sondern nur um normative Dogmen kreist.

Sicherlich haben Sie es auch bemerkt. Es gibt einen enormen Unterschied zwischen den zivilgesellschaftlichen Organisationen der Muslime, genauer gesagt den Gemeinschaften und Bruderschaften, und denen der Christen. Muslime suchen meistens endgültige Lösungen für die Ordnung der ganzen Gesellschaft in ihrer Religion, während Christen in der Regel (mit Ausnahme von Fanatikern) Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und säkularen universalen Werten gegenüber offen sind. Natürlich werden heilige Bücher hierbei nicht ignoriert. Aber niemand in Deutschland versucht ständig, die Legitimität jedes Themas über die Religion zu erklären.

Es scheint, als ob es ernsthafte, sogar unlösbare Probleme im muslimischen Denken gibt! Ohne zu übertreiben: Zivilisation, Wissenschaft, Recht, Moral, Ästhetik, Philosophie, Literatur, Geschichte, Kultur – in jedem Bereich, der den Menschen betrifft, wird auf irgendeine Weise versucht, Religion einzubeziehen und mit dem Islam zu rechtfertigen. Bereits im 13. Jahrhundert sah Ibn Taymiyya die Hauptursache für die Zerstörung von Bagdad durch die Mongolen in der unzureichenden Umsetzung bzw. Praktizierung der Religion. Die Islamisierungsbewegung, die sich in der Endphase des Osmanischen Reiches entwickelte, ist daher keine Erfindung der Moderne, sondern hat ihre Wurzeln in der fernen Vergangenheit. Religion und politische Macht waren in der islamischen Geschichte stets eng verknüpft und beeinflussten sich gegenseitig.

Auch heute hat sich nichts geändert! Die geistigen und praktischen Bemühungen der konservativen Gemeinschaften basieren auf zwei Blockaden: Religion und Personenkult! Die sich bis heute etablierten islamischen Strömungen, ob sie in der Türkei, in Syrien, Ägypten oder auch in den europäischen Ländern aktiv sind, dienen nur dem Schutz des Islams gegenüber dem Westen und dem Streben nach Überlegenheit durch Religion/Moral. Solange der Blick nicht auf Werte, sondern auf Identität gerichtet ist, wird sich weder der Schale (Krug) noch das Hamam ändern!* Weiterhin wird auf dem heißen Steinboden mitten im Hamam geschwitzt! Denn Religion bietet den Menschen, insbesondere den Massen, einen unglaublichen geistigen „Komfort“. Sie bietet einen Raum, der von Geheimnissen und Mauern umgeben ist und angeblich alles lösen kann, bis zu den komplexesten Problemen des Lebens und der Welt. Wenn man sich bei Worten und Taten nur auf den allmächtigen Gott verlässt, gibt es kein Ende des Komforts.

Aber… Viele Muslime sind noch nicht mal in der Lage, eine Position gegenüber gesellschaftlichen Problemen wie Radikalismus, Rassismus, Diskriminierung, Polarisierung, Umweltverschmutzung, Hassrede, Unterdrückung, Gewalt und Krieg einzunehmen, weil sie ihre religiöse Identität auf ihr Privatleben beschränken. Es fällt ihnen schwer, sich von ihrer Überzeugung und ihrem Wunsch zu lösen, jedes Problem in der Gesellschaft, sogar im säkularen, öffentlichen Bereich mit dem Islam zu lösen. Was könnte der Sinn darin sein, beharrlich für eine wissenschaftlich, philosophisch, sozial und kulturell unmögliche Idee einzutreten! Jemand, der sich wünscht, von den inneren und spirituellen Prinzipien der Religion zu profitieren, kann dies tun, aber ist es denn notwendig, Soziologe zu sein, um festzustellen, dass die Religion in den heutigen heterogenen Gesellschaftsstrukturen kein gemeinsamer Nenner sein kann?

Wie richtig ist es, „jeden Zustand, der erklärt werden muss, durch ein einziges System auszudrücken!“, wie Kierkegaard sagte. Egal ob es sich um eine Religion oder eine andere Ideologie handelt, wie kann ein einziges allumfassendes System die komplexen Probleme lösen? Das Erklären jeder Situation durch ein System, sei es nur rational wie bei den Aufklärern oder als Glaubenssystem, macht den Menschen zwangsläufig zu einem Werkzeug. In nichtentwickelten Gesellschaften wird dem Menschen, der für einen Traum oder ein Ideal instrumentalisiert wird, kein Eigenwert zugeschrieben. Jeder, der in rückständigen Gesellschaften einen Blick auf den Umgang mit Menschen wirft, kann dies erkennen. Das trifft auch auf jede Form der Ideologisierung zu. Man sagt, dass man den Grad der Ideologisierung an der Höhe der „Opfer“ erkennt, die man den Menschen/Anhängern abverlangt…. manchmal bis zur Selbstaufgabe.

Es gibt viele Gründe dafür, dass Gedanken in konservativen Strukturen sehr religionszentriert sind. In einigen muslimischen Kreisen ist die Dämonisierung von Politik und Philosophie vielleicht eine der wichtigsten Ursachen. Mit dieser Logik liegt die Problematik auch darin begründet, dass es einen Bewusstseinsmangel in diesen beiden Bereichen gibt. Überspitzt kann man es so formulieren: Es ist so, als ob man den Menschen gegenüber Gott setzt und dann Gott auf seine Seite zieht, um so Politik und Philosophie als menschliche Produkte zu bekämpfen. Es scheint, dass der Weg zur Verherrlichung der Religion darin besteht, Politik und Philosophie herabzusetzen oder sie zu dämonisieren. Es gibt die törichte Auffassung, dass Politik als Parteisystem und Philosophie als geistige Aktivität angesehen werden, die den Menschen in Perversion führen. Es ist offensichtlich, dass aus einer undifferenzierten oder unsicheren Mischung aus Politik, Partei, Philosophie, Religion keine köstliche Aschura-Speise** entstehen wird.

Nun ist eine unsinnige Interpretation von einem pseudoklugen Menschen: „Die Philosophie ist nur eine erzählte, aber nicht repräsentierte Religion. Der Grund, warum die Philosophie in unserem Leben nichts bedeutet, ist das Fehlen von Handlung, Anbetung und Notwendigkeit.“ Nach dieser „klugen“ Meinung ist Philosophie eine Religion und bedeutet im Leben nichts! Es scheint, dass entwickelte Gesellschaften Jahrtausende lang umsonst mit Philosophie beschäftigt waren. Politik wäre schon immer die Sache des Teufels? Eine total rückständige Logik! Und dazu kommt die Verwandlung der Religion in eine starre Ideologie! Wenn Philosophie und Politik auf einen „belanglosen“ Bereich beschränkt sind, bleibt nur noch Folgendes übrig: Eine Domäne, die alle Tugenden, den Fortschritt und die Lösungen nur in der Religion sieht und in sich geschlossene ist. So macht Religion einen totalitären Anspruch geltend.

Max Weber weist darauf hin, dass es in den Sozialwissenschaften keine unendlich gültigen Begriffe gibt. Das bedeutet, dass sich im Laufe der Zeit die Bedeutungen von Begriffen ändern können, sich einschränken oder erweitern können. Aber viele religiöse Begriffe sind zeitlich unbegrenzt gültig! Was machen wir nun? Es reicht nicht nur, sich mit Begriffen zu beschäftigen, es gibt auch noch einen säkularen Bereich im Leben. Wenn versucht wird, den öffentliche Raum durch religiöse Normen zu prägen, kommt es zu Konflikten mit staatlicher Autorität. Wenn die Legitimierung auf zwei unterschiedlichen Kräften (Verfassung und Gott) beruht, sind Konflikte zwischen säkularem und religiösem Bereich unvermeidlich. Was passiert dann? In entwickelten Gesellschaften steht die Verfassung über allem und umfasst auch Religionsfreiheit. Heilige Bücher werden nicht über die Verfassung gestellt. Hier geht es nicht um die Frage der inhaltlichen Qualität, sondern um die gesunde Funktionsweise der staatlichen Ordnung. Dies ist eines der Probleme, das in muslimischen Kreisen nicht ausreichend begriffen wird.

In Wirklichkeit ist seit jeher bekannt, dass der Staat sich nicht um Religion dreht, sondern vor allem um Recht und Gerechtigkeit. Es gab Zeiten, in denen sich der Staat um Religion drehte, aber wie? Es gibt immer noch Länder wie Afghanistan, Saudi-Arabien, Iran! In diesen Ländern werden Gerechtigkeit, Ethik, Freiheiten und sogar Wissenschaften nur durch den Glauben interpretiert, alles dreht sich generell um die Religion. Genauso wie im europäischen Mittelalter, als Theologie die vorherrschende Wissenschaft war. Aber da Gesellschaften nicht nur aus einem Stamm, einer Gemeinschaft, einer politischen Clique, einer ideologischen Gruppe oder einem Glauben und einer Weltanschauung bestehen, wie funktioniert dann das Systems eines Staates? Muslime können in entwickelten freiheitlich-liberalen Demokratien ihren Glauben weitgehend im Rahmen der verfassungsmäßigen Rechte frei leben. In keinem islamischen Land können sie so viel Freiheit genießen wie in den Ländern, in die sie kommen. Aber während sich in entwickelten Gesellschaften nicht alles um Religion dreht, genießen viele Muslime nur die Freiheit, sich um ihren Glauben zu drehen und unterstützen sogar die diktatorischen Regime in ihren Herkunftsländern.

Lassen Sie mich noch einmal fragen: Wann werden Muslime ihren Anspruch einer absoluten Wahrheit etwas ruhen lassen und sich bewusstwerden, dass es an der Zeit ist, ihren Glauben auf ihr privates Leben zu beschränken? Wenn Menschen an Runden Tischen sitzen und sozialpolitische Probleme auf zivilisierte Weise diskutieren, warum hinterfragen Muslime nicht, wann sie sich diese Fähigkeit oder Kompetenz aneignen werden?

Sie könnten sich meines Erachtens einer gedanklichen Offenheit und der in pluralistischen Gesellschaften nötigen Toleranz nähern, indem sie Argumente zur Lösung sozialer Probleme wie Radikalismus, Rassismus, Diskriminierung, Polarisierung, Umweltverschmutzung, Hassrede, Gewalt und Krieg sammeln… Indem sie auch darüber nachdenken, warum und wie man Demokratie und Rechtsstaat verteidigen muss. Aber auf jeden Fall ohne religiöse Quellen als Referenz zu verwenden! Indem sie eine Weile den Einflussbereich der Religion verlassen und sich auf den Bereich der Rechtsstaatlichkeit und Ethik konzentrieren… Indem sie soziale und politische Ereignisse aus einer gewissen Distanz betrachten… Nur die Muslime, die eventuell in gewissem Maße von einem säkular-liberalen Bewusstsein geprägt sind, können möglicherweise rationalere und realistischere Lösungen für ihre Probleme finden. Wer weiß?

Muhammet Mertek

 

* Türkische Redewendung: Es ist alles beim alten, alles wie bisher.

** Die wichtigste Eigentümlichkeit der Aschura liegt darin, dass Nahrungsmittel, die nichts miteinander zu tun haben, zusammengemischt werden: Gartenbohnen, Kichererbsen, Saubohnen, Weizen, Korinthen, Aprikosen, Feigen, Orangenschalen, Haselnüsse, Walnüsse, Pinienkerne, Esskastanien, Rosinen, Rosenwasser, Reis, Milch und Zucker. Garniert wird das alles dann noch mit Granatäpfelstückchen. All diese Zutaten werden miteinander kombiniert, und vereinigen sich zu einem außerordentlichen Wohlgeschmack. Man schmeckt jedes einzelne Aroma heraus, und doch entsteht ein neuer, ganz eigentümlicher Geschmack, der Aschura-Geschmack.

Letzte Aktualisierung: 13. Juli 2023
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