Erziehung & Bildung

„Mein einziger Wert ist Hass!“

Im islamischen Religionsunterricht wird in der siebten Klasse die Themenreihe „Leben und Tod“ behandelt. Der Lehrer bereitete an der entsprechenden Stelle ein Arbeitsblatt über Werte vor, die in einer „Wertepyramide“ geordnet werden sollten. Viele Werte, die man im Leben braucht, waren zur Orientierung aufgelistet: Anständigkeit, Bescheidenheit, Ehrlichkeit, Fleiß, Freundlichkeit, Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Gesundheit, Glaube, Kritikfähigkeit, Mitleid, Ordnung, Pünktlichkeit, Respekt, Sauberkeit, Selbstkontrolle, Sparsamkeit, Toleranz, Höflichkeit, Zuverlässigkeit etc..

Die Schüler*innen sollten diese Werte auf der dreiteiligen Pyramide eintragen; auf die unterste Ebene, was allgemein, zentral, grundlegend wichtig ist; auf die mittlere Ebene, was lebenswichtig ist und auf die oberste Ebene, was für sie persönlich wichtig ist.

Außer einem Schüler arbeiteten alle gut mit. Der Lehrer ging zu ihm und fragte:

„Hast du die Aufgabe verstanden?“

„Ja!“

„Warum schreibst du denn nichts auf?“

„Ich sehe hier keine Werte, die für mich wichtig sind. Ich habe andere Werte.“

„Gut. Dann kannst du ja deine Werte eintragen.“

Der Lehrer wartete mit großer Neugier. Der Schüler schrieb ganz oben auf der Pyramide ein einziges Wort: „Hass“. Der Lehrer schwieg einen Moment und erwiderte: „Das ist aber kein Wert!“

Sichtlich erregt entgegnete der Schüler: „Doch! Das ist mein Wert und sehr wichtig für mich!“

Dem Lehrer, der nicht wusste, was er sagen soll, war klar, dass er später mit ihm in Ruhe nochmal darüber sprechen musste. So könnte er vielleicht erfahren, worauf sich sein Hass bezieht.

Nach dem Unterricht beschäftigte ihn dieses Ereignis noch lange. Dass die zahlreichen Werte für diesen Schüler keine Rolle spielten und der Schüler den Hass über alle Werte stellte, trug eindeutig pathologische Züge. In einer solchen Situation fühlt man sich als Lehrer überfordert.

Es wird eine Mammutaufgabe sein, den Schüler aus dem hasserfüllten Zustand auf die Ebene der Liebe, Zuneigung und Freude zu bringen. Dazu braucht man zweifelsohne jenseits der möglichen Rahmenbedingungen der Sozialarbeiter*innen und pädagogisch-methodischer Kompetenzen der Lehrkräfte die Unterstützung von Eltern und psychotherapeutischer Einrichtungen.

Letzte Aktualisierung: 2. Dezember 2022
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