Erziehung & Bildung Kolumnen

Paradoxale Entwicklung bei türkischen Kindern in Deutschland

Vor etwa 40 Jahren kamen die ersten Türken als „Gastarbeiter“ nach Deutschland. Damals brauchte man viele Arbeitskräfte für den wirtschaftlichen Aufbau. Daher wurden sie gut und gerne aufgenommen, obwohl sie Sprach- und Integrationsprobleme hatten. Was hat sich in 40 Jahren geändert? Viel. Die erste Generation ist im Rentenalter. Die zweite arbeitet Die dritte besucht Schulen. Die türkischen Schüler haben jetzt weniger Sprach- und Integrationsprobleme, sondern vielmehr Probleme im Bereich von Akzeptanz und Diskriminierung. An dieser Stelle möchte ich einige statistische Angaben vor Augen führen, damit wir endlich wahrnehmen, in welchem Maße wir in der näheren Zukunft mit solchen Problemen zu tun haben. Etwa 2,5 Millionen Türken leben zurzeit in Deutschland. Die Bevölkerungswachstumsrate der türkischen Mitbürger beträgt 2,1% die deutsche -0,1 %. Nach der Statistik von 1996 beträgt die Anzahl der türkischen Kinder im Alter von 0 bis 10 etwa 340 000. Mehr als 600 000 Kinder besuchen Schulen. Man kann also innerhalb der türkischen Bevölkerung ein relativ starkes zahlenmäßiges Wachstum feststellen. Ungefähr 25 000 Studenten besuchen deutsche Universitäten. Und ca. 15 000 Menschen türkischer Herkunft befinden sich andererseits in deutschen Gefängnissen. Nach diesen Angaben kann man leicht feststellen, dass die Probleme der türkischen Kinder im Erziehungs- und Bildungsbereich in Zukunft öfter auf die Tagesordnung kommen werden.

In diesem Zusammenhang möchte ich aber nur auf eine neue Entwicklung und deren Ursachen hindeuten. Meinen Beobachtungen nach fühlen sich immer mehr türkische Schüler an deutschen Schulen unsicher und diskriminiert. Zusammen mit fehlenden Kenntnissen über ihre eigene Kultur, Religion, Muttersprache und Geschichte (Identitätsproblematik) führt diese Diskriminierung sie zu einem Paradox: einem äußerlichen Nationalbewusstsein. Bei dessen Entstehung spielt der Umgang der deutschen Kinder und Lehrer mit den türkischen Kindern eine bedeutende Rolle. Werden die Unterschiede in Kultur und Religion nicht mit Interesse und Offenheit wahrgenommen, entsteht mit der Zeit bei türkischen Kindern das Gefühl der Überempfindlichkeit und eine „antideutsche“ Haltung. In Zukunft kann diese Entwicklung sogar zum Zusammenbruch des Miteinanderlebens und des Friedens in der Gesellschaft führen. Die Kinder fühlen sich hier nämlich nicht mehr als „Ausländer“, sondern „einheimisch“, da sie hier geboren und aufgewachsen sind. Dieses Faktum müssen die Deutschen zur Kenntnis nehmen. Wenn in jedem Unterricht der Respekt vor der anderen Kultur, Religion und Mentalität und die Bedeutung des Dialogs und der Toleranz thematisiert und behandelt werden, dann kann das vielleicht zu einem guten Umgang der deutschen Schüler mit „ausländischen“ und zur Wahrnehmung der Gefühle und Mentalität der türkischen Kinder führen. Das soll natürlich auf Gegenseitigkeit beruhen.

Die türkischen Schüler müssen auch auf ihr Verhalten gegenüber den Deutschen achten. Ich habe durch eine Befragung vieler türkischer Kinder festgestellt, dass sie mit folgenden Worten, Ausdrücken und Verhaltensweisen innerhalb der Schule konfrontiert sind und sich beleidigt fühlen:

– „liiii, die Türken haben mich angefasst.“
– “Wenn du ein Kopftuch trägst, haue ich ab.“
– „Wenn ihr Türkisch sprecht geht in euer Land zurück!”
– “Rede Deutsch, nicht Türkisch. Hier ist Deutschland!”
– “Ihr habt hier nichts verloren!”
– “Türken gehören in die Mülltonne.”
– “Wie lange dauert es bis ein Türke seinen Müll rausbringt? 9 Monate!”
– “Kauf dir eine Tüte Deutsch!”
– „Nur wegen der Türken werde Zechen geschlossen. Wenn ihr geht, werden wir froh sein.”
– “Ohne Türken hier zu leben wäre schön.”
– “Kümmeltürken!“
– „Ach, vergiss Türken!“
– “Omatürk!”
– “Türkische Fraktion!”
– “Scheißtürken!”
– “Türken kann man nicht vertrauen.”
– Mit Türken kann man nichts anfangen!“
– „Türken nehmen unsere Arbeitsplätze weg.“
– „Eine Lehrerin sagte mir: „Fette Kuh, verpiss dich!“
– „Deutsche machen Mist und Türken werden beschuldigt.“

Eine deutsche Schülerin erklärt: „Ich wollte meine türkische Freundin besuchen. Meine deutschen Freundinnen sagten mir darauf: „Dann gehörst du auch zu den Asylanten!“
– „Wenn irgendetwas beschmiert oder dreckig gemacht wird, werden sofort die Türken beschuldigt.“
– „Ein türkischer Schüler sagt: „Wir unterhalten uns Türkisch“, worauf ein deutscher Schüler sagte: „Es stört mich. Verzieht euch in die Türkei!“
– „Ich habe mich einmal versprochen, also anstatt „sie“ „er“ gesagt. Daraufhin haben die Deutschen gelacht und gesagt: „Du musst Deutsch lernen!'“
– „Bei einem Elternsprechtag haben wir uns zehn Minuten verspätet. Darauf sagte der Lehrer: „Alle Türken sind so.“ „Er hat uns einfach beleidigt.“
– „Eine deutsche Lehrerin spricht freundlich und lachend, wenn sie mit deutschen Schülern spricht. Aber wenn sie mit uns spricht, lacht sie nie.“
– „Wenn ich im Unterricht etwas weiß, hebe ich meinen Finger hoch. Aber der Lehrer nimmt mich nicht dran. Wenn ich etwas nicht weiß und mich deswegen nicht melde, dann ruft er mich auf und ärgert sich und gibt mir MinusPunkte.“
– „Einige deutsche Lehrer helfen uns nicht und sagen: „Denke nach und finde es selbst heraus!“
– „Einige deutsche Mädchen fragten: „Wird dein Vater deinen Ehemann auswählen? Zwingt dich dein Vater ein Kopftuch zu tragen?“
– „Mit den türkischen Schülern schreien die deutschen Lehrer und ärgern sich über sie mehr als bei den deutschen.“
– „Einige deutsche Lehrer beantworten Fragen der Deutschen freundlich, aber auf die Fragen der Türken reagieren sie schreiend. Auf unsere Frage sagen sie: „Das habe ich schon erklärt. Du sollst aufpassen!“
– „Nach einem Streit werden wir sofort beschuldigt.“
– „Deutsche Schüler geben sich gegenseitig etwas, aber wenn türkische Schüler etwas wollen, sagen sie. ‚Nein‘, ‚Könnt ihr euch das nicht leisten‘, ‚Habt ihr kein Geld?“

Es hat natürlich Gründe, dass die türkischen Kinder die oben aufgeführten Äußerungen zu hören bekommen. Es stimmt, dass sie in vielen Alltagssituationen – sowohl in schulischen als auch in außerschulischen – auffallendes Verhalten zeigen. Es stimmt auch, dass bei schwierigen Schülern türkischer Herkunft folgende Merkmale auftreten:

  • Desorientiertheit
  • leistungsmäßig erfolglos
  • in zwei Kulturen bewandert (oder in keiner Kultur)
  • Subkultur bilden (wobei teilweise illegale Tendenzen auftreten [Bandenbildung])
  • halblegal lavierend (Grenzen setzen wird als Ausländerfeindlichkeit deklariert)
  • gewisse Lebensklugkeit, die als Überlebensstrategie (nicht Lebensstrategie) genutzt wird.

Diese Verhaltensstörungen sind aber das Resultat einer fehlenden familiären und gesellschaftlichen Erziehung. Wir können darüber stundenlang sprechen und müssten dies eigentlich auch tun, weil es sich bei diesem Punkt um das Kernproblem handelt, das spätere Konfliktsituationen hervorruft und fördert und zu einer immer größer werdenden und im Extremfall nicht mehr kontrollierbaren Spirale wird – das aber allein noch nicht die psychischen und sozialen Probleme löst, die sich in einem langen Prozess entwickelt haben.

Daher müssen wir einen Blick auf die Hintergründe dieser Entwicklung werfen.

Erstens sind die meisten türkischen Eltern nicht in der Lage, ihre Kinder gut zu erziehen, da sie

  • meistens aus ländlichen Gebieten der Türkei kommen und nicht so gut gebildet sind,
  • daher nicht über genügende Kenntnisse ihrer eigenen Kultur, Religion und Geschichte verfügen,
  • nicht in der Lage sind, mit den konfrontierten Herausforderungen in der deutschen Gesellschaft fertig zu werden, – sprachliche Probleme haben,
  • nicht in der Lage sind, ihren Kindern bei Hausaufgaben zu Hause zu helfen,
  • mit Ihren Kindern im kulturellen und sozialen Bereich Generationskonflikte haben, die besonders aus der traditionellen familiären Atmosphäre und den einheimischen gesellschaftlichen Werten entstehen,
  • sich aus diesen wichtigen Gründen um ihre Kinder nicht richtig kümmern.

Aus diesem Grund können wir feststellen, dass die Persönlichkeitsentwicklung innerhalb der Familie nicht voll gelingt.

Zweitens müssen wir uns fragen, was für Erfahrungen die türkischen Kinder erst in Kindergärten und dann in Grundschulen machen. Meiner Meinung nach fangen die ersten Konfrontationen hier an, die das Miteinander und den gegenseitigen Respekt verletzen und schlechte Erfahrungen und Vorurteile fördern. Die Gesellschaft ist ja wie ein kristallenes Gefäß, in dem das Kind die Flüssigkeit ist; sie gibt ihm Form und Färbung. Daher kann niemals auf eine feste Zusammenarbeit der deutschen und türkischen Eltern in diesen Bildungsinstitutionen verzichtet werden. Das müssen die zuständigen Verantwortlichen fördern.

Drittens müssen die Probleme oder die Konflikte zwischen Türken und Deutschen an Schulen offen und konsequent diskutiert werden. Hier sollen zunächst diejenigen, die sich verantwortlich fühlen, den ersten Schritt tun und die notwendige Plattform vorbereiten.

Es gibt natürlich auch positive Entwicklungen und wirklich gute Freundschaften zwischen deutschen und türkischen Kindern. Mit diesem Artikel wollte ich mich aber nur mit den zunehmenden Problemen der türkischen Kinder an den Schulen auseinandersetzen, von denen sie sich besonders betroffen fühlen, und auf die Signale einer paradoxen Entwicklung hinweisen.

Muhammet Mertek

01 September 1999

Letzte Aktualisierung: 14. Januar 2017
Zur Werkzeugleiste springen