Erziehung & Bildung Kolumnen

Wirkung der religiösen Werte auf die Identitätsbildung

Ein amerikanisches Forscherteam ist jüngst zu dem Ergebnis gekommen, das im Durchschnitt etwa ein Drittel aller Pop-Songs direkt Bezug auf Drogen, Alkohol oder auch auf das Rauchen nehmen. Meistens geht es um Alkohol, Marihuana oder nicht näher benannte Drogen. Die Zusammenhänge, in denen Drogen oder Alkohol auftauchen, sind überwiegend die Themenkomplexe Party, Sex, Clique oder Gewalt. Als Basis ihrer wissenschaftlichen Analyse dienten ihnen die 279 populärsten Songs des Jahres 2005. Die Hauptadressaten dieser Songs sind Jugendliche. Problematisch ist vor allem, dass diese in ihren Haltungen und insbesondere auch in ihren Ansichten zu Gesundheitsfragen noch nicht sehr gefestigt sind. Wenn nun in den allermeisten Songs Drogen und Alkohol positiv oder bestenfalls neutral dargestellt werden, dann kann das schlimme Folgen haben.

In diesen Zusammenhang passt auch eine Aussage der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (DHS). Ihr zufolge leiden immer mehr Bundesbürger an verhaltensbezogenen Süchten. Die Glücksspielsucht zum Beispiel nimmt massiv zu, und auch bei der Online- und PC-Abhängigkeit registrieren Beratungs- und Hilfeeinrichtungen eine stark steigende Zahl von Anfragen. Der Satz „Die Gesellschaft scheint immer süchtiger zu werden“, bringt das Problem auf den Punkt. Als eine von vielen Maßnahmen soll nun die Zahl der Schulpsychologen in Nordrhein-Westfalen von 170 auf 260 erhöht werden, was auch als ein Baustein zur Prävention gegen Gewalt verstanden sein soll. (Zeitungsberichte vom 07. 12. 2007)

Allein aus diesen Darstellungen lässt sich ableiten, dass in den Bereichen Erziehung und Bildung einiges im Argen liegt; in Bereichen also, die die Kinder auf die Zukunft vorbereiten sollen. Meines Erachtens stellen die Wertelosigkeit und ihre gesellschaftlichen Folgen die wichtigste Herausforderung der Gesellschaft von heute dar. Die Schulen allein sind in dieser Frage überfordert. Viele Schülerinnen und Schüler sind offenbar weder erziehungsbereit noch -fähig. Aber was soll man in einer materialistisch-, konsum- und lustorientierten Gesellschaft auch schon anderes erwarten. Was kann man erwarten, wenn viele Kinder schon in frühem Alter mit Zerstreuung und Ablenkung durch Musik, Computer und Fernsehen nur so bombardiert werden und einen verantwortungsbewussten Umgang mit diesen Medien gar nicht erst erlernen? Wie soll die Schule solche Kinder formen?

Als Lehrer an einer Schule sehe ich Tag für Tag, dass trockene Regeln und Verbote allein nichts bringen. Regeln, sei es in der Schulordnung oder auch im Grundgesetz, werden nur von denjenigen Menschen wirklich respektiert und eingehalten, die über eine persönliche und soziale Identität verfügen; über eine Identität, die besonders von kulturellen und religiösen Werten geprägt ist. Doch wie kann man ihnen so eine Identität vermitteln?

Meine These lautet, es geht nur über Werte, über kulturelle und religiöse, menschliche und universelle Werte, die sich auch als praxistauglich erweisen. Solche Werte schaffen Identität und ermöglichen eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung. Sie sollten nicht nur in der Schule, sondern vor allem auch in den Familien gelehrt werden. Denn an den zum Teil bedenklichen Entwicklungen in unserer Gesellschaft sind natürlich nicht nur die Schulen schuld, sondern auch die Eltern. Viele von ihnen bieten ihren Kindern zu wenig Zuwendung und Ansporn oder setzen ihnen keine Grenzen. Angeberei, Gewaltkriminalität, Drogen- und Alkoholsucht schon in jungen Jahren – das sind beherrschende Themen. Täter werden immer brutaler und immer jünger. Respektlosigkeit, Orientierungslosigkeit, Gleichgültigkeit und Sinnlosigkeit begegnen uns bei Kindern und Erwachsenen gleichermaßen.

Sich eine eigene Identität zu erwerben, ist allerdings auch alles andere als einfach. Das bekommen gerade viele Jugendliche heute zu spüren. Verantwortlich dafür sind z.B. das Tempo des sozialen Wandels, die herrschende Orientierungskrise und die Pluralisierung der Lebenslagen, in deren Verlauf traditionelle Bindungen, Normen, Werte und Vorgaben der Lebensführung ihre Gültigkeit verloren haben.

Im Unterschied zu früher wird die Identität nicht mehr in erster Linie durch die universellen Werte geprägt, die im Elternhaus und in der Gesellschaft vorgelebt werden, sondern von den Medien und der Konsumgesellschaft, die Werte nach eigenem Gutdünken oder sogar Wertelosigkeit propagieren. Dabei sind Werte doch so wichtig – für alle Menschen, aber vor allem für diejenigen, die in einer Diaspora oder in einer fremden Kulturlandschaft leben. Ein Mangel an Werten erschwert die Identitätsbildung und Persönlichkeitsentwicklung, was sehr gut etwa an türkischen Jugendlichen in Deutschland zu beobachten ist.

Für die Identitätsentwicklung des Menschen sind viele unterschiedliche Bereiche wichtig: Tradition, Kultur, Geschichtsbewusstsein, Sprache und Familie, um nur einige zu nennen. Eine bedeutende Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Religion.

Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der die Religion ihre Bedeutung verloren zu haben scheint. Sie wurde zunächst zur Privatsache gemacht, dann auch aus dem Privatleben vertrieben. Die Religion wurde modifiziert, korrigiert und reformiert, und das menschliche Leben in der Folge säkularisiert. Die Gesellschaft ist offenbar auf dem besten Wege, sich immer stärker an Konsum und Materialismus zu orientieren und religionsgebundene Werte völlig zu ignorieren. Das gesellschaftliche Gleichgewicht droht dadurch zu kippen und auf der Strecke zu bleiben. Man braucht nur die Zeitung aufzuschlagen und liest von Werteverfall, Respektlosigkeit, Orientierungslosigkeit, Egoismus, Maßlosigkeit, Süchten, hohen Scheidungsraten etc. Die Basis, das Fundament für eine menschenwürdige Gesellschaft scheint erschüttert. Was kann man dagegen tun?

Ein Gegensteuern sollte bei der Erziehung der Kinder in den Familien ansetzen. Die Zukunft eines jeden Staates ist von seinen Kindern und Jugendlichen abhängig. Ihnen eine möglichst gute Erziehung und Ausbildung zu bieten, ist unabdingbar. Und was bedeutet gute Erziehung konkret? Für mich jedenfalls, dass wir bei den zu Erziehenden den Sinn für das Positive und für menschliche Tugenden wie Respekt, Schamgefühl, Toleranz, Liebe, Ehrlichkeit, Vertrauenswürdigkeit etc. wecken. Und weiter: Eine Gesellschaft, die funktionieren soll, braucht Werte. Ohne Werte wie Glaubwürdigkeit, Großzügigkeit, Hilfs- und Opferbereitschaft und Rücksichtnahme können die Individuen keine eigene Identität entwickeln und festigen. Die Religionen sind der Quell der Werte. Wie und wodurch können wir sie ersetzen, wenn wir sie aus der Gesellschaft verbannen? Vielen gilt die Religion als ein Hemmnis jeder Weiterentwicklung. Ich hingegen bin der festen Überzeugung, dass das Gegenteil der Fall ist. Deshalb möchte ich nun aus islamischer Perspektive aufzeigen, was die Religion dem Menschen von heute zu bieten hat.

Manchmal erscheint mir die Religion wie eine Schule, die den Menschen gute, moralische Eigenschaften ans Herz legt. Ob jung oder alt – sie steht jedem offen. In dieser Schule kann man Frieden, Zufriedenheit und Freiheit finden. Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? Was ist der Sinn unseres Lebens? Auf diese alle Menschen zutiefst berührenden Fragen gibt die Religion anspruchsvolle und für das Leben sehr wichtige Antworten. Die Prinzipien, die sie vermittelt, regeln unser Leben in ethischer, moralischer und gesellschaftlicher Hinsicht.

Die islamische Religion beeinflusst das individuelle und gesellschaftliche Leben des Menschen positiv. Sie betont einerseits den Stellenwert des Individuums, ohne dabei seinen Schwächen wie Egoismus und Hochmut zu viel Wert beizumessen, und fördert andererseits Opferbereitschaft und den Sinn für Gerechtigkeit. Sie ermuntert uns, gegen jede Art von Ungerechtigkeit Stellung zu beziehen. Sie befreit uns von Hoffnungslosigkeit, Antriebslosigkeit und Ziellosigkeit; sie verstärkt unsere Entschlossenheit und kräftigt unseren Willen. Sie ermuntert uns, Gutes zu tun und uns für moralische Werte einzusetzen. Sie bietet uns Werte, Maßstäbe und Orientierung und lenkt unsere Triebe und körperlichen Gelüste in positive Bahnen. Diese Qualitäten der Religion prägen die Identität des Individuums ganz entscheidend. Wenn sich die Religion im Alltag manifestiert, wenn sie im Leben der Menschen eine Rolle spielt, dann profitiert davon die Identitätsentwicklung. Dann kann die Religion der Jugend die dringend notwendige Orientierung bieten.

Die Religion kommt auch der Gesellschaft zu Gute: Sie kann einen Beitrag dazu leisten, die gesellschaftliche Einheit zu wahren und soziale Unterschiede zu beseitigen. Sie fördert die soziale Ethik und lässt die Individuen harmonisch zusammenleben. Nur ein Beispiel: Dem Islam zufolge sind Tugenden wie Aufrichtigkeit, Fleiß, Reinheit, Gottesfurcht, Wohltätigkeit und Ähnliches von größter Wichtigkeit. Er bestärkt die Menschen darin, sich auch für andere einzusetzen. Die Religion schützt die Gesellschaft darüber hinaus vor schlechten Einflüssen. Besonders in Zeiten von Kriegen und Katastrophen hilft sie uns, Leid und Zerstörung zu überwinden.

Für die Identitätsbildung des Individuums halte ich die Vorbildfunktion der Propheten für sehr wichtig. Im Koran werden die Propheten Abraham und Muhammad als „schöne Vorbilder“ bezeichnet. Heutzutage haben wir meiner Meinung nach in unserer Gesellschaft zu wenig Vorbilder, die sich durch universelle Werte auszeichnen. Viele Vorbilder unserer Zeit (wie etwa Popstars) werden willkürlich von den Medien zu Vorbildern ernannt, ihre persönliche Wertorientierung spielt dabei nicht die geringste Rolle.

Eine bedeutende Rolle bei der Wertevermittlung spielt daneben auch das Menschenbild. Das muslimische Menschenbild zeichnet sich durch eine ganzheitliche Betrachtungsweise aus. Der Islam betont nicht, wie ältere religiöse Konzepte, die Trennung von Leib und Seele, sondern spricht sich für ein ausgewogenes Zusammenspiel dieser beiden Bereiche aus. Er sieht den Menschen mit all seinen Komponenten – Körper, Ego (Nafs) und Geist (Herz, Verstand, Gewissen [Gedächtnis, Gefühle, Wille]) – als eine unteilbare Einheit. Er schenkt sowohl den positiven als auch den negativen Seiten des Menschen Beachtung. Er ignoriert die Schwächen des Menschen nicht, versucht sie aber unter Kontrolle zu bringen und verurteilt z.B. Gewalt, Lügen, üble Nachrede und Ungerechtigkeit. Tugenden hingegen fördert und bestärkt er. Daher werden Hoffnung und Furcht, Paradies und Hölle oder Barmherzigkeit und Zorn stets in einem Atemzug genannt und gegenübergestellt. Auf diesem Wege wird das menschliche Ego erzogen und der Mensch zu einem guten Menschen.

Der Islam betont, wie wichtig es für die persönliche Identität des Menschen ist, über eine intakte Innenwelt zu verfügen. Jeder Mensch muss sich also um ständige Weiterentwicklung bemühen. Eine solche Weiterentwicklung beeinflusst auch die soziale Identität des Menschen; denn je mehr sich der Einzelne mit seinem Glauben auseinandersetzt, desto mehr werden davon auch die zwischenmenschlichen Beziehungen profitieren. Wenn ich mit mir selbst im Reinen bin und über ein gesundes Selbstwertgefühl verfüge, trete ich automatisch auch meinen Mitmenschen offen, respektvoll und ehrlich gegenüber. Ich bin mir sicher, dass Kinder und Jugendliche, die heute verhaltensauffällig sind, zum Großteil eben über kein gesundes Selbstwertgefühl verfügen und nicht mit sich im Reinen sind. Die meisten von ihnen haben keine religiöse Sozialisation genossen. Daher bin ich der Meinung, dass der Religionsunterricht an den Schulen diese Zielrichtung im Auge haben muss. Wenn im Religionsunterricht ausschließlich die Themen Liebe und Freundschaft behandelt werden, weil die Schüler kein Interesse an anderen Dingen zeigen, dann lässt dieser Unterricht eine große Chance ungenutzt. Die islamische Religion mit ihrer inneren Dynamik bietet in dieser Hinsicht vieles an.

Im Grunde ist es doch ganz einfach: Ein Mensch, der daran glaubt, dass er am Ende seines Lebens zur Rechenschaft gezogen wird, hat eine ganz andere Lebensperspektive als jemand, der glaubt, dass mit seinem Tod alles zu Ende ist. Er wird nicht so leicht lügen, stehlen, die Rechte anderer verletzen und sollte Respekt vor den Mitmenschen, Eltern, älteren Menschen und nicht zuletzt vor sich selbst haben. Er ist angehalten zu positivem Denken und kann sich deshalb am Leben erfreuen. Wer positiv denkt, entdeckt viel Schönes, und wer das Schöne erkennt, kann sein Leben genießen und glücklich werden. So positiv kann die Religion in dieser Hinsicht wirken!

Abschließend möchte ich betonen, dass mir eine offene Auseinandersetzung mit den Kernfragen des menschlichen Lebens unerlässlich scheint. Der Mensch selbst sollte im Mittelpunkt aller Bemühungen stehen. Also sollte man hier ansetzen. Eine gelungene Erziehung sollte seiner komplexen Natur gerecht werden. Sie sollte sämtliche biologischen, seelischen, spirituellen und emotionalen Faktoren des Menschseins mit einbeziehen. Natürlich hat jeder Mensch Schwächen. Aber es darf nicht sein, dass sich diese Schwächen unkontrolliert in der Gesellschaft austoben können und sogar noch angestachelt werden. Denn sonst werden sie die Gesellschaft letztlich zerstören. Vor allem geht es also darum, zu diesen Schwächen – und damit auch zu allen negativen gesellschaftlichen Entwicklungen – ein Gegengewicht aufzubauen, das die Gesellschaft in der Balance hält. Und dieses Gegengewicht bilden die Werte. Wie geht man dabei mit dem Glauben um? Welchen Stellenwert sollte die Religion in Gesellschaft und Alltag genießen? Das sind Fragen, die in diesem Zusammenhang ganz sicher auf die Tagesordnung gehören.

Muhammet Mertek

Letzte Aktualisierung: 14. Januar 2017
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