Gesellschaft Kolumnen

Die muslimische Identität, wie sie sich in den Bittgebeten der Pilgerfahrt widerspiegelt

Muhammet Mertek

Wieder steht die Pilgerzeit vor der Tür. Im letzten Jahr war es auch mir vergönnt, die Pilgerfahrt (Hadsch) nach Mekka zu vollziehen. Aus diesem Anlass möchte ich einige Eindrücke mit Ihnen teilen, die ich auf meiner Reise sammeln durfte. Gewiss, wieder werden Millionen von Menschen zu den heiligen Stätten strömen. Und ungeachtet all der unterschiedlichen Sprachen und Nationalitäten werden die Herzen dieser Menschen von stets den gleichen Gefühlen und Gedanken durchdrungen sein. Millionen von Muslimen werden Gott, den Herrn der Kaaba, um Vergebung bitten und den Propheten Muhammed lobpreisen. Sie werden zu Gott beten und Ihn anflehen, sie werden versuchen, sein Wohlgefallen zu erlangen.

Im Grunde ist die besondere Form der Anbetung und Verehrung, die die Pilgerfahrt auszeichnet, ein Spiegel der Innenwelt eines jeden Muslims. Und nichts wird von diesem Spiegel so klar reflektiert wie die flehentlich gesprochenen Bittgebete. In welcher Phase der Hadsch diese Bittgebete gesprochen werden, ist in diesem Zusammenhang eigentlich nicht von Bedeutung. Eine Ausnahme bilden lediglich die Bittgebete der Umkreisung der Kaaba, des siebenmaligen Abschreitens der Strecke zwischen den Erhebungen Safa und Marwa und der Andacht auf dem Berg Arafat. Hier nämlich halten die Muslime Zwiesprache mit Gott und legen Ihm klar und deutlich dar, welche Pläne sie für die Zukunft haben, was sie sich im Diesseits erhoffen und welchen Pfaden sie folgen. Sie versichern Ihm, sich von schlechten Verhaltensweisen lösen und ihre Triebe zu bändigen zu wollen. Sie verleihen ihrer Hoffnung Ausdruck, Großzügigkeit, Bescheidenheit, Hilfsbereitschaft, Brüderlichkeit und Aufrichtigkeit zu üben und so das Wohlgefallen Gottes zu erlangen. In diesen Bittgebeten konfrontieren sich die Muslime selbst mit ihren eigenen körperlichen Gelüsten und Schwächen. Sie denken über sich selbst nach und erleben gewissermaßen eine Wiedergeburt, die sie schließlich in ihr bisheriges Dasein zurückversetzt. Frei von allen Sünden wiedergeboren zu werden, sich von allen irdischen Dingen loszusagen, zu versuchen, die höchste Stufe des Wohlgefallens Gottes zu erklimmen – all dies sind Ziele eines jeden Muslims.

Millionen von Menschen vergießen, fernab von Heuchelei und Hochmut, Tränen der Reue und weihen Gott aufrichtig und aus freiem Willen in ihre Sorgen, ihr Leid und ihren Kummer ein. Alle Anstrengungen, alle Bemühungen, alle Entbehrungen, die sie auf sich nehmen, entspringen einzig und allein ihrem freien Willen. Muslim zu sein, bedeutet im wahrsten Sinne des Wortes, „eins zu sein“, eine Einheit zu bilden. Den Menschen der westlichen Welt fällt es schwer, die Gefühle, Empfindungen und Gedanken, die in den Bittgebeten der Muslime mitschwingen, nachzuvollziehen und zu begreifen. Denn sie können kaum einordnen, was sich hinter den Worten „das Gottes Wohlgefallen erlangen“ verbirgt, hinter dem Glauben der Muslime an das Jenseits, hinter dem Siegel der Propheten oder hinter dem Heiligen Koran. Und dennoch bedeutet Muslim zu sein genau das – mit allen Worten und Taten, mit dem ganzen Wesen und nicht zuletzt in den Bittgebeten danach zu streben, das Gottes Wohlgefallen zu erlangen.

Einige Bittgebete der Hadsch, in denen dieses Streben zum Ausdruck kommt, möchte ich im Folgenden zitieren:

Mein Barmherziger Gott. Dich bitte ich inständig um Vergebung, Tugendhaftigkeit, Gesundheit und Wohlbefinden. Gewähre mir in allen Angelegenheiten der Religion, des Diesseits und des Jenseits Deine immerwährende Hilfe und Gnade, damit ich in Dein Himmelsreich gelange und dem tiefen Abgrund entfliehe.

Mein Gütiger Gott. Schenke mir Deinen Schutz und Deine Sicherheit, damit ich nicht hinsichtlich Deiner Existenz in Zweifel verfalle, damit ich Dir keine Teilhaber zur Seite stelle, nie auf Irrwege abgleite, mich von Heuchelei und Wankelmütigkeit fernhalte, Abstand zu jeder Unsittlichkeit halte.

Mein Gerechter Gott. Vergib mir, hab Erbarmen mit mir, schenke mir Gesundheit und Wohlbefinden, gewähre mir ehrlich verdiente und gesegnete Gaben.

Mein Erbarmender Gott. Dich ersuche ich, mir die Standhaftigkeit und Stärke zu verleihen, die mich zu Deiner endlosen Gnade führen. Erweise mir Deine Gunst, und vergib mir meine Sünden. Hilf mir, alle Sünden und alles Schlechte abzustreifen, Güte und Aufrichtigkeit zu erlangen, dein Himmelreich zu erreichen und mich vor dem Höllenfeuer zu bewahren.

Mein Beschützender Gott. Von Dir erhoffe ich mir das ewige Himmelreich und dessen für uns Menschen unvorstellbar kostbaren Geschenke. Deshalb sehne ich mich nach den Worten und Taten, die mich Deinem Himmelreich näher bringen. Ich suche Zuflucht bei Dir vor dem Reich des Feuers und vor allen üblen Worten und Taten, die mich diesem Feuer ausliefern.

Mein Allwissender Herr. Gewähre mir aus Deiner Erhabenheit heraus Weisheit, und zähle mich zu deinen frommen, aufrichtigen und rechtschaffenen Gläubigen.

Mein Sanftmütiger Gott. Erbarme dich unser für die Dauer unseres irdischen Lebens, und vergib uns unsere Sünden. Erbarme dich unser. Mach es uns schwer, nutzlosen und sinnlosen Beschäftigungen nachzugehen, die weder im Diesseits noch im Jenseits Früchte tragen, und damit kostbare Zeit zu vergeuden. Öffne unsere Augen und Herzen für all die schönen Dinge, die dich zufriedenstellen. O Herr, Du der bist der Barmherzigste der Barmherzigen.

Mein stets Vergebender Gott. Vergib mir meine Sünden durch Deine Gnade. Lass mein Dasein im Diesseits und im Jenseits auf ewig harmonisch und wohlgeordnet sein. Erbarme Dich meiner mit Deiner Barmherzigkeit, die mich im Diesseits und Jenseits Wohlergehen finden lässt.

Mein Weiser Gott. Du bist der Besitzer von allem Hocherhabenen, lass mir all das zuteil werden, was Dich zufrieden stellen könnte.

Mein Gott, Du Erhörer aller Gebete. Dich bitte ich um Weisheit, Frömmigkeit, Sittsamkeit, Genügsamkeit und Bescheidenheit.

Mein Nachsichtiger Herr. Gewähre uns im Diesseits Gutes, gewähre uns auch im Jenseits Gutes, schütze uns vor den Leiden der Hölle. Herr, vergib mir am Jüngsten Tag, an dem wir alle Rechenschaft ablegen müssen, meine Sünden. Vergib auch meiner Mutter, meinem Vater und allen Muslimen. Schenke uns Deine unendlich große Güte und Barmherzigkeit.

Mein Allwissender Gott. Erhelle mein Herz mit Wissen, mache meinen Leib Dir gehorsam, reinige meine Seele von Zwietracht und Verirrungen, veranlasse meinen Geist, immer wieder Deiner Einzigartigkeit und Einmaligkeit zu gedenken. Beschütze mich vor den Versuchungen des Bösen, damit es nicht Besitz von mir ergreift; du mein Barmherziger Gott.“

Auch während die Pilger aus dem heiligen Brunnen Zemzem trinken, vernachlässigen sie die Bittgebete nicht: „Mein Großzügiger Gott. Von Dir erbitte ich mir Wissen, reichliches Auskommen und Heilung von jeglichem Kummer und Leid. Erlaube mir auch, ausgiebig aus dem Brunnen der köstlichen Paradiesquelle Kawthar meines geliebten Propheten Muhammad (Friede sei mit ihm) zu schöpfen.“

Die hier angeführten Bittgebete von Menschen, die aus allen Teilen der Welt stammen, die verschiedenen Völkern angehören und unterschiedliche Sprachen sprechen, reflektieren aufs Schönste die gemeinschaftliche und untrennbare muslimische Identität der Pilger auf der Hadsch. Diese unterscheidet sich doch deutlich von der im Westen konstruierten Vorstellung des „anderen und fremden“ Muslims.

Letzte Aktualisierung: 7. Januar 2017
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