Gesellschaft Kolumnen

Amokläufe und ihre Hintergründe

Muhammet Mertek

Die gesellschaftlichen Probleme, mit denen sich Industrieländer zurzeit konfrontiert sehen, beweisen, dass es diesen Gesellschaften eindeutig an Orientierung und inneren Werten mangelt. Inzwischen werden manche Probleme erkannt und diskutiert, allerdings fehlt es leider noch immer an ernsthaften Bemühungen, sie zu lösen. Welche Konsequenzen diese Krise mit sich bringen kann und was für eine erschreckende Dimension die Gewalt in der Gesellschaft mittlerweile angenommen hat, zeigen die Amokläufe der jüngeren Vergangenheit deutlich auf. Überraschenderweise stammen die jugendlichen Täter in Ländern wie den USA, Finnland und Deutschland offenbar vorwiegend aus wohlhabenden Familien. Die Gewalt hat also längst die ganze Gesellschaft erfasst und beschränkt sich nicht (mehr) nur auf die unteren Schichten.

Der Begriff Amok kennzeichnet eine psychische Extremsituation, die durch Unzurechnungsfähigkeit und absolute Gewaltbereitschaft gekennzeichnet ist. (Wikipedia) Aber sind die sogenannten Amokläufe wirklich reine Kurzschlusshandlungen, oder spielen vielleicht noch andere Faktoren eine Rolle? Noch vor kurzem haben Sachverständige über den Amoklauf in Winnenden zu Protokoll gegeben, dass diese Tat nicht in Worte gefasst werden kann. Eine nur allzu verständliche Frage wie „Wie kann ein Mensch bloß so ein Blutbad anrichten?“ bringt einerseits Fassungslosigkeit, andererseits Machtlosigkeit zum Ausdruck. Wenn man davon ausgeht, dass man es hier nur mit einer Kurzschlusshandlung zu tun hat, dass hier ein verwirrter Mensch in einer Art tollwütigem Wahn gehandelt hat, dann braucht man sich kaum weiter mit den Ursachen und Gründen seiner Tat zu befassen. In Wahrheit aber erfordern Vorfälle wie dieser sehr sorgfältige Untersuchungen, nicht nur aus sozialer und psychologischer Perspektive.

Tatsache ist, dass die Täter in der Regel bereits lange vor ihrer Tat entsprechende Pläne geschmiedet, sich vorbereitet und sogar aus reiner Lust getötet haben. Und es ist wohl kaum zu leugnen, dass dafür viele unterschiedliche Gründe verantwortlich gemacht werden können: neben Computerspielen, Internet, einem Mangel an psychologischer Unterstützung, einem zu leichten Zugang zu Waffen und überhaupt allgegenwärtiger Gewalt mit Sicherheit auch Diskriminierung, Vereinsamung und ein mangelnder Glaube.

Auf der fieberhaften Suche nach Antworten wendet sich die ratlose Öffentlichkeit vor allem an Psychologen und Psychiater. Von ihnen erhofft man sich darüber hinaus auch, dass sie das Problem in den Griff bekommen. Aber sind diese Psychologen und Psychiater mit ihren materialistischen Sichtweisen und Erklärungsversuchen wirklich dazu in der Lage, auch nur eine geeignete Diagnose zu stellen? Was den Amoklauf vom 11. März 2009 betrifft, so wurde bekannt, dass der 17-jährige Täter Tim K. aus Winnenden in den sechs Monaten vor der Tat in verschiedenen Psychiatrien in Behandlung gewesen ist. Und doch konnte dies seine Tat nicht verhindern.

Meiner Meinung nach sind die Ursachen für Massaker dieser Art auf einer anderen, viel tieferen Ebene zu suchen, nämlich in der Werte- und Orientierungslosigkeit der säkularisierten westlichen Gesellschaften sowie in der daraus resultierenden Erziehungskrise und der inneren Leere der Individuen. Die ohnmächtigen Reaktionen auf die Gewalttaten zeigen, dass wir – wenn sich nicht bald etwas ändert – Gefahr laufen, vom Sog der Hilflosigkeit erfasst zu werden.

Es ist nicht legitim, dass nach solchen Tragödien die Ursachensuche den Psychologen überlassen wird und sich die öffentliche Diskussion allein um das Verbot von ,Killerspielen‘ dreht. Die modernen Gesellschaften mögen zwar ökonomisch und materiell gut gestellt sein und über die größten Möglichkeiten verfügen; doch demgegenüber stehen Glaubenslosigkeit und spirituelle Unwissenheit oder Uninteressiertheit. Diese Defizite wirken sich auf alle Lebensbereiche aus und bringen grenzenlose Wünsche und Gelüste und eine selbstzerstörerische innere Leere hervor. Nur wenn diese Defizite überwunden werden, können Gesellschaften wirklich prosperieren und all ihren Mitgliedern Segen bringen. Anderenfalls werden wir uns daran gewöhnen müssen, dass Vorkommnisse wie die oben beschriebenen und andere Sinnkrisen und (Volks-)Depressionen zur Normalität werden.

In Konsumgesellschaften, in denen der Begriff ,Sünde‘ keinerlei Stellenwert mehr besitzt, gibt es immer wieder Menschen, die in einen Zustand der inneren Leere fallen, sich aus ihrer psychischen Notlage nicht mehr befreien können und den Tod deshalb als letzten Ausweg sehen. Auch Jugendliche gehören dazu, allein ihre Zahl geht in die Tausende. Erschwerend hinzu kommt, dass sie ihren Pessimismus, ihre Hoffnungslosigkeit und ihre Aggressionen oft nach außen, gegen andere Menschen richten. Pessimismus, Hoffnungslosigkeit und Aggressionen sind menschlich, sie sind tief im menschlichen Wesen verankert. Aber sie können und müssen unbedingt unter Kontrolle gehalten werden. Dieser simplen, aber umso bedeutenderen Wahrheit weigert man sich, ins Auge zu blicken. Der Mensch ist ein Geschöpf, dem ein Mittelweg in den Grenzen von ,Erlaubtem und Verbotenem‘ aufgezeigt werden muss. Solange dies nicht geschieht, können sich überall und jederzeit neue Katastrophen ereignen.

Westliche Denker haben entscheidenden Anteil daran, dass die Menschen entwurzelt und der Hegemonie ihres Egos und ihrer uferlosen Wünsche und Begierden überlassen wurden. Dieser Fehler hat sich schon oft gerächt und rächt sich nun wieder. Die folgenden Verse von Marie von Ebner-Eschenbach beschreiben sehr schön den Teufelskreis, in dem diese Denker gefangen sind und aus dem sie sich schnellstens befreien sollten: Das eilende Schiff, es kommt durch die Wogen/Wie Sturmwind geflogen./Voll Jubel ertönt’s vom Mast und vom Kiele:/“Wir nahen dem Ziele.“/Der Fährmann am Steuer spricht traurig und leise:/“Wir segeln im Kreise.“

Erfahrungsgemäß kann man einer Zwangslage nicht dadurch entkommen, dass man sich Sündenböcke welcher Art auch immer sucht. Der Amoklauf von Winnenden, der mit 16 Toten endete, stand lange Zeit auf der Tagesordnung von Medien und Öffentlichkeit. Doch wurden in all den Diskussionen viel zu selten die degenerierten moralischen und religiösen Werte der Gesellschaft oder das fragwürdige gängige Freiheitsmodell oder das Problem der instabilen familiären Strukturen angesprochen. Dabei zeigt sich doch bei genauerer Betrachtung, dass die hierzulande vertretenen philosophischen Werte in dieser Form kaum länger aufrecht zu erhalten sind. Auf der einen Seite werden zum Beispiel Freiheit und Individualität ständig betont (mit der zweifelhaften Begründung, sie würden ein Gleichgewicht im ,sozialen Leben‘ gewährleisten); auf der anderen Seite kann man sich nicht auf Normen einigen, die wirklich Grenzen setzen. Der Begriff ,Sünde‘ wurde ausgemustert, und kein anderes moralisches Wertesystem trat an seine Stelle, um die Gelüste des Egos in irgendeiner Art und Weise im Zaum zu halten. Während Konsum und Vergnügen stets gepriesen wurden, hat man aus den Augen verloren, wohin diese Prioritäten sowohl auf sozialer als auch auf psychologischer Ebene führen. Wissenschaft und Religion, Verstand und Gefühl wurden voneinander getrennt, aber es wurde nicht hinterfragt, welch schwerwiegende Persönlichkeitsstörungen das daraus resultierende duale Weltbild hervorrufen kann. Inzwischen sind die Gesellschaften an einem Punkt angelangt, an dem sie sich durch Phänomene, Handlungsweisen und Standpunkte in ihrer Existenz bedroht fühlen, die sie selbst heraufbeschworen haben: Untugenden aller Art, Drogen- und Alkoholkonsum, Mobbing, Aids, instabile Familienstrukturen, sexueller Missbrauch, etliche Probleme in Erziehung und Bildung oder auch Amokläufe.

Will man sich aus diesem Teufelskreis der Degeneration befreien, dann müssen althergebrachte und bis jetzt sakrosankte Anschauungen einer kritischen Neubetrachtung unterzogen werden. Den Ausgangspunkt für eine solche Analyse muss eine aufrichtige Anerkennung der elementaren Problempunkte bilden. Regierende und Regierte gleichermaßen müssen den Mut besitzen, den Finger in offene Wunden zu legen.

Die liberale Philosophie der westlichen Gesellschaften reduziert den Menschen auf ein individuelles Wesen und gibt ihm einen rechtlichen und freiheitlichen Rahmen vor, der ihn von seinen zahlreichen sozialen Eigenschaften isoliert. Dem solchermaßen beschnittenen Menschen steht ein übermächtiges Staatsgebilde gegenüber. Das hat zweierlei Konsequenzen: Zum einen wird die Bürokratie gestärkt. Die Schutzsphären beispielsweise von Familie und Gesellschaft fallen weg, und der Staat füllt das entstandene Vakuum. Deshalb ist die Bürokratie in modernen Nationalstaaten so mächtig. Dem berühmten deutschen Soziologen Max Weber (1864-1920) zufolge ist die moderne Gesellschaft eine bürokratische Gesellschaft. Die Bürokratie ist demnach die organisierte Form des Verstandes – was unweigerlich zu der Frage führt: Lässt sich der Mensch in der Welt von heute von seinem individuellen Verstand leiten oder eher von den Vorgaben des staatlich organisierten Verstandes, das heißt von der Bürokratie? Augenscheinlich ist der Mensch frei, in Wirklichkeit aber eine Marionette. Zum anderen versteht der Mensch, wenn er von seinen zahlreichen sozialen Eigenschaften isoliert wird, unter Freiheit nichts anderes mehr als die Befriedigung seiner körperlichen Bedürfnisse und Triebe. Diese Befriedigung beschränkt sich jedoch auf Konsum, Sexualität und andere körperliche Genüsse. Zu seiner wahren Freiheit, der Freiheit im Geiste hingegen bekommt er keinen Zugang mehr und kann sie nicht ausleben. Aus der Perspektive des Islams betrachtet macht uns das Begehren unserer Triebseele zu Sklaven aller irdischen und körperlichen Gelüste; es sperrt unseren Geist in das Gefängnis unseres Körpers. Folglich ermöglicht uns die Befreiung der Seele aus diesem Käfig die Rückkehr in unsere ursprüngliche transzendentale Heimat. Die moderne liberale Philosophie jedoch setzt sich für die Freiheit ein, der Seele jeden Wunsch zu erfüllen. Auf dem Weg zu diesem Ziel bemüht sie sich, alle religiösen, moralischen und ethischen Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Diese beiden Freiheitsverständnisse stehen in krassem Gegensatz zueinander, und es ist nicht möglich sie miteinander zu vereinen. (Siehe: Ali Bulaç, Zaman, 6. März 2009)

Diese Wahrheit spiegelt sich darin wieder, dass viele junge Menschen in der westlichen Welt darauf hoffen oder sogar davon überzeugt sind, durch die Befriedigung ihrer sinnlichen Begierden Freiheit zu erlangen. In Wirklichkeit jedoch werden sie durch diesen Anspruch zu Gefangenen ihrer Triebe. Solange sich Individuen und Gesellschaft von religiösen Werten abwenden und allein auf die kraftlosen Statuten der Gesetze vertrauen, werden die jungen Menschen vergeblich nach einer glücklichen Zukunft suchen und wird die übrige Gesellschaft ihren Frust zu spüren bekommen. Koste deine Zeit in der Welt aus! Mach dir um die Zukunft (und das Jenseits) keine Gedanken! Vergnüge dich lieber, vergeude nicht dein Leben! Iss, trink und genieße! Wozu willst du die Welt retten? Denk nicht so viel nach, sonst wirst du noch verrückt! – Solch eine Haltung ist heute weit verbreitet und wird auch gefördert. Sie zeugt aber davon, dass Geist und Seele der entsprechenden Gesellschaften kurz vorm Erlöschen stehen.

Eine Gesellschaft, in der keine Tat mehr als ,Sünde‘ verstanden wird, wird die Amokläufe nicht stoppen können. Denn gewaltverherrlichende Computerspiele, Internet und ein Mangel an psychologischer Betreuung mögen sekundär eine Rolle spielen und müssen wohl genau deshalb auch oft als Sündenböcke herhalten; doch nichts ist verhängnisvoller als die innere Leere der Täter. Sie ist der Hauptgrund für ihre Amokläufe. In der Konsumgesellschaft von heute, in der religiöse und moralische Werte aus dem sozialen Leben verbannt wurden, in der die Scheidungsrate bei weit über 40 Prozent liegt, in der die familiären Strukturen beseitigt wurden, in der nahezu alles zulässig und legitim ist und vor allem die Sexualität keine Grenzen mehr kennt, wird es dringend Zeit, das Wesen des Menschen neu zu definieren.

Die verantwortlichen Intellektuellen und der Staat sollten an einem Strang ziehen, um auf dem eingeschlagenen Pfad eine Kehrtwendung zu vollziehen. Es gilt, sich nicht in Tagespolitik zu verzetteln und den Problemen auf den Grund zu gehen. Regierungen kommen und gehen. Die notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen müssen aber auf einer tieferen Ebene ansetzen und langfristiger Natur sein. Ein neuer Geist muss Einzug halten, der die innere Leere der Menschen hinfort bläst; ein Geist, der höheren Zielen verpflichtet ist, die dem gemeinschaftlichen Wohl, aber auch dem Individuum nutzen.

Letzte Aktualisierung: 7. Januar 2017
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