Gesellschaft Kolumnen

Eine Bilanz der Migration

Muhammet Mertek

Die Krawalle in den Vorstädten Frankreichs haben die Migranten-‚Gettos‘ in den europäischen Ländern in den Fokus gerückt und dabei gezeigt, wie krank die Vorstädte, die Banlieues, bereits sind. Mit Entsetzen musste man mit ansehen, wie Rauch aus brennenden Autos, Schulen und Kirchen aufstieg. Die europäischen Länder wurden Zeugen eines Alptraums. Inzwischen haben sich die Wogen etwas geglättet. Bleibt jedoch zu fragen: Handelte es sich bei diesen Vorkommnissen lediglich um einen isolierten Aufstand ausgegrenzter Migranten, die sich zur Wehr setzten, nachdem sie lange Zeit sich selbst überlassen worden waren, oder hatten wir es hier möglicherweise mit Vorbeben noch weit größerer sozialer Erschütterungen in der Zukunft zu tun? Sind ähnliche Vorkommnisse auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern vorstellbar, in denen Themen wie Gettos, Parallelgesellschaften, Gegengesellschaften und Integration offener diskutiert werden?

Vielleicht haben ja manche Kommentatoren Recht, wenn sie sagen, man könne die Migranten in Frankreich nicht mit den Türken in Deutschland vergleichen, da diese beiden sozialen Gruppen große historische und soziokulturelle Unterschiede aufweisen. Alarmierend ist jedoch, dass sich die Gettos selbst und das herabwürdigende Auftreten der Verantwortlichen in den Regierungen gegenüber den Migranten in wesentlichen Punkten durchaus gleichen. Diese Tatsache birgt sehr wohl die Gefahr, dass es auch in Deutschland zu Unruhen kommen könnte.

Auch hierzulande leben viele Migranten in Wohnvierteln zusammen, die kaum einen Zugang zur Restgesellschaft aufweisen und in denen eine Ausgrenzung in den Bereichen Sprache, Kultur und Bildung stattfindet. In den Vierteln, die vermehrt von Türken bewohnt werden und in denen die Anzahl von türkischsprachigen Schülern sehr hoch ist, treten in unterschiedlichem Maße Sprach- und Bildungsprobleme auf, die u.a. dazu führen, dass viele Jugendliche ohne einen Schulabschluss oder Ausbildungsplatz in das Erwachsenenalter eintreten. Hinzu kommt noch, dass sie meistens bereits viele schlechte Erfahrungen in der Schule gemacht haben. Viele von ihnen fühlen sich von der Gesellschaft diskriminiert und ausgestoßen, sind orientierungslos und den menschlichen Werten entfremdet. Sie sind auch geneigt, ihre Probleme mit Gewalt zu lösen und daher für Beeinflussungen und Manipulationen von außen anfällig. Hier lauern, wenn dieser verhängnisvollen Entwicklung nicht Einhalt geboten wird, Gefahren für die Zukunft. Die Jugendlichen haben dringende seelische Bedürfnisse, die ungestillt bleiben. Sie finden keinen inneren Frieden und tragen deshalb ihre Aggressivität nach außen. Dieser Funke kann leicht überspringen.

Politiker und städtische Amtsträger sollten Migranten bzw. Minderheiten, die in Getto-ähnlichen Vierteln leben, mit viel mehr Fingerspitzengefühl begegnen. Als ersten Schritt sollten sie sich in Gesprächen bemühen, bei auftretenden Problemen nicht ständig in ethnisch-religiösen Kategorien zu denken. Jeder Mensch sollte auch wie ein Mensch behandelt werden, und nicht wie ein Angehöriger dieser oder jener ethnisch-religiösen Gruppe. Dies besagt auch das Grundgesetz. In Artikel 1 heißt es, die Würde des Menschen ist unantastbar. Dieses grundlegende Prinzip wird aber oft missachtet. Es fällt nicht schwer zu erkennen, wie häufig die Würde von Migranten in Schulen, Fabriken und Arbeitsplätzen verletzt wird, wie die Menschen mit psychologischen Mitteln ausgegrenzt und oft nicht einmal als vollwertige Menschen akzeptiert werden. Herabwürdigende Aussagen und Handlungen treffen bisweilen nicht nur Einzelpersonen, sondern ganze Nationen. Eine alles andere als positive Rolle spielen in diesem Zusammenhang neben gewissen Medien auch hochrangige Politiker, sogar einige Minister und Ministerpräsidenten.

Dass es in Deutschland Getto-ähnliche Strukturen gibt, ist nicht in erster Linie den Türken anzukreiden. Als vor über 40 Jahren die ersten türkischen Arbeiter nach Deutschland zogen, siedelte man sie in der Nähe ihrer Arbeitsplätze und Einsatzorte an. In den Schulen dieser Viertel stieg folglich rasch die Zahl der türkischen Schüler. Die heute zu beobachtende Gettobildung ist somit eine Folge der Ansiedlungspolitik, die dann in den Bildungssektor hinein wirkte. Auf der anderen Seite bleiben viele Stadtteile den Türken auch verschlossen, da man ihnen dort schlichtweg keine Wohnungen vermietet. Auch diese Tatsache hat sicherlich einer Gettobildung Vorschub geleistet.

Dessen ungeachtet hört man den Innenminister eines Bundeslandes folgende Erklärung abgeben: „Weil sich die Türken für besser als die Deutschen halten, passen sie sich unserer Gesellschaft nicht an und entscheiden sich stattdessen für ein Leben in Gettos.“ Mit solchen Worten wurde in den 40er Jahren auch die Unterbringung von Juden in Gettos gerechtfertigt. Einige Kreise beuten das Thema Migranten populistisch für innenpolitische und eigennützige Zwecke aus. Derlei Äußerungen helfen niemandem weiter. Mit ihnen sägt man an dem Ast, auf dem wir alle sitzen.

Normalerweise sollte man davon ausgehen, dass die Medien in solchen Fällen tätig werden und tun, was man eigentlich von ihnen erwarten könnte – nämlich entsprechende Aussagen anprangern und verurteilen. Leider jedoch verdient sich der Großteil der deutschen Presselandschaft in diesem Punkt seit Jahren keine gute Note. Fast täglich berichten die Medien ausführlich über Themenbereiche, die für das Zusammenleben im Alltag nur am Rande eine Rolle spielen. Dem Islam werden fast ausschließlich Begriffe wie Dschihad, Märtyrertod, Selbstmordattentate, Terror, Ehrenmorde, Zwangsverheiratung, Kopftuch usw. zugeordnet. Oft werden auch Informationen verbreitet, die ganz einfach falsch sind. So wird die Öffentlichkeit in Angst und Schrecken versetzt. Die türkische Gesellschaft wird als rückständig bezeichnet. Man schaut auf die türkischen Migranten herab, grenzt sie aus und unterstreicht ständig, dass sie nicht zur Mehrheitsgesellschaft dazugehören. So beschwört man französische Verhältnisse geradezu herauf. Denn bekanntlich gebiert Fanatismus neuen Fanatismus, und Unwissenheit auf der einen schürt Unwissenheit auch auf der anderen Seite.

Ich denke, es ist verständlich, dass Muslime sich mit einer solchen Berichterstattung nicht identifizieren können, dass sie sie schon gar nicht akzeptieren können und dass sie die allseits herrschende Voreingenommenheit, Tendenziösität und Desinformation mit großer Sorge verfolgen. Denn schließlich wissen sie, dass reife Muslime keine Gefahr für die Gesellschaft darstellen, sondern dass die Gesellschaft ganz im Gegenteil sehr von ihnen profitieren kann. Weder gehen sie auf die Straße, um Krawalle anzuzetteln, noch haben sie es auf das Hab und Gut oder das Leben anderer Menschen abgesehen. Vielmehr können sie sich zum Wohle dieser Gesellschaft zu Wort melden und ihren Beitrag als Bürger dieses Landes leisten. Jeder Muslim, der seine Religion – den Islam – gut verstanden hat, sollte wissen, dass sich Probleme nicht mit Gewalt lösen lassen.

Im Karrikaturenstreit um die provokativen Verunglimpfungen des Propheten haben die meisten Muslime auf demokratische Weise protestiert, obwohl sie davon überzeugt waren, dass sich hier bestimmte europäische Medien hinter der Medien- und Meinungsfreiheit verschanzten, um die Würde der Muslime anzugreifen. Die Folge war jedoch, dass die Medien die gewalttätigen Proteste weniger Muslime in anderen Ländern verallgemeinerte und alle Muslime – auch die in Deutschland – als potenziell gewalttätig darstellte. So steigt die Islamophobie stetig.

Leider beharren viele westliche Medien darauf, Muslime als gewaltbereit und gewalttätig darzustellen. Im Zusammenhang mit den Vorkommnissen in den französischen Vorstädten fragte der Nachrichtensprecher des Heute Journal im ZDF den Europa-Abgeordneten der Grünen Daniel Cohn-Bendit nach dem Einfluss der Religion und der Integrationsunwilligkeit der Jugendlichen auf die Vorfälle. Aus dieser Frage sprachen wieder einmal die Vorwürfe, die man den Muslimen und ihrer Religion auch in Deutschland immer wieder macht. Der Abgeordnete aber lachte und sagte sinngemäß, um zu betonen wie fernab der Realität und wie oberflächlich die Wahrnehmung des Fragenden war:

„Die Ereignisse in den Vorstädten haben mit Religion nichts zu tun. Sicherlich mögen sich einige dieser Menschen, die seit Jahrzehnten sich selbst überlassen und ausgegrenzt wurden, der Religion zugewandt haben. Aber hinter den Aufständen steckt keine religiöse Motivation. Man schaue sich nur die Schulen in den Gettos an! Viele der Jugendlichen möchten ja von Bildungsangeboten Gebrauch machen und möchten sich integrieren. Doch die schreckliche Situation an den Schulen verrät, dass sie offenbar bewusst ausgegrenzt werden sollen.“

Aus muslimischer Sicht haben die Integrationskonzepte versagt. Warum? Vor allem deshalb, weil die kulturelle Identität und die Würde der Menschen, die integriert werden sollen, nicht beachtet werden. Die Menschen, um die es geht, werden von der Politik dazu aufgefordert, sich von ihren religiösen und nationalen Identitäten zu lösen und sich den Werten und Kulturen ihrer neuen Heimat anzupassen. Die bis dato gültige Integrationspolitik muss neu überdacht werden. Wünschenswert wäre die Entwicklung einer ‚Vision für das Zusammenleben‘, die über die Integration hinausgeht. Aus dem, was Ende 2004 in den Niederlanden, Ende 2005 in Frankreich und zuletzt nach der Veröffentlichung der provokanten Karikaturen des Propheten geschah, sollte man Lehren ziehen. Der Staat sollte alles in seiner Macht Stehende tun, um eine Gettobildung zu verhindern. Wo bereits Ansätze dazu bestehen, sollte er zumindest die Bildungschancen der Jugendlichen verbessern. Die Medien sollten sich bemühen, die Öffentlichkeit sachlich und ausgewogen zu informieren und keine Ängste zu schüren. Sie sollten sich dem friedlichen Zusammenleben verpflichtet fühlen und selbst ihren Teil dazu beitragen, mögliche negative Entwicklungen abzuwenden.

Auf der anderen Seite ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich die Probleme in puncto Integration und Zusammenleben hauptsächlich auf die muslimischen Migranten konzentrieren. In Frankreich integrierten sich die katholischen Italiener und Spanier und in Deutschland die Polen, indem sie sich anpassten. Die muslimischen Migranten hingegen blieben in Frankreich, Deutschland und den Niederlanden Außenseiter, denen die Begriffe Anpassung und Integration inhaltslos und schwammig erscheinen. Auch nach 20-30 Jahren aktiver Integrationspolitik wissen viele von ihnen nicht, woran sie sich eigentlich anpassen sollen. Dem deutschen Grundgesetz, den üblichen Regeln für das Zusammenleben und dem Erlernen der deutschen Sprache jedenfalls widersetzt sich doch ohnehin fast niemand. Auch die Forderungen der neuen Integrationsministerin Prof. Dr. Maria Böhmer, dass Migranten Deutsch sprechen, die deutsche Geschichte kennen, die einheimischen Werte und das deutsche Rechtssystem sowie auch die im Grundgesetz verankerten gesellschaftlichen Werte akzeptieren sollen, wurden fast einhellig begrüßt.

Gefragt ist aber vor allem eine Annäherung an die jeweils andere Seite, die von guten Absichten getragen wird. Dabei dürfen die Muslime nicht den Fehler begehen, sich von negativen Erfahrungen abschrecken zu lassen. Zwar gibt es sicherlich unter den Deutschen Extremisten, die Fremden gegenüber Antipathien hegen. Genauso gibt es aber auch andere, die aufrichtige Muslime mit Respekt behandeln, auch wenn diese an ihrer Identität festhalten.

Es geht darum, mit gutem Beispiel voranzugehen. Denn positive Vorbilder werden früher oder später auch gewürdigt. Es geht darum zu erkennen, dass sich die Vision eines harmonischen Zusammenlebens über einen von beiden Seiten aufrichtig, in aller Offenheit und mit guten Absichten geführten Dialog verwirklichen lässt.

Wir dürfen nicht vergessen, dass der Mensch die Tendenz zum Guten in sich trägt, dass er außerdem dazu neigt, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Wie man in den Wald ruft, so schallt es auch wieder heraus. Begegnet man uns offenherzig und interessiert, sind auch wir – und damit meine ich nicht die Migranten allein, sondern alle Menschen – geneigt, unser Gegenüber zu respektieren und ihm ein gutes Stück Weg entgegen zu kommen. Beide Seiten sollten also versuchen, sich in die jeweils andere hineinzuversetzen und ihre Gefühle und Empfindsamkeiten nachzuvollziehen.

Die Vorfälle in Frankreich haben eindeutig gezeigt, wie wichtig der Dialog zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen ist. Dieser Dialog muss trotz aller Widerstände fortgeführt werden, damit wir uns besser kennen lernen, Rücksicht aufeinander nehmen und Mitgefühl füreinander entwickeln. Nur so können wir die großen gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen meistern. Unsere Aufgabe besteht darin, die im Menschen verankerten Anlagen in positive Bahnen zu lenken. Der Islam mit seinen Prinzipien und Werten hat in dieser Hinsicht sicherlich einiges zu bieten und besitzt das Potenzial, an der Lösung vieler Probleme mitzuwirken.

Die Fontäne, Nr. 32, 2006

Letzte Aktualisierung: 7. Januar 2017
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