Gesellschaft Kolumnen

45 Jahre Migration und Integration

Muhammet Mertek

Deutschland, das im 2. Weltkrieg dem Erdboden gleichgemacht wurde, erfuhr nach dem Krieg einen unglaublichen Aufschwung. Tausende von zusätzlichen Arbeitskräften wurden im Ausland engagiert. Auch aus der Türkei lud man im Rahmen eines Abkommens “Gastarbeiter” ein. Vor genau 40 Jahren kamen die ersten von ihnen nach Deutschland. Diejenigen, die sich auf den Weg machten, waren Junggesellen aus ländlichen Gebieten Anatoliens. Bevor man sie ins Land ließ, mussten sie sich jedoch einer strengen medizinischen Prüfung unterziehen, im Rahmen derer festgestellt werden sollte, ob sie den körperlich anspruchsvollen Arbeiten in Deutschland auch gewachsen sein würden. So wurden Zähne, Hände und ihr ganzer Körper streng untersucht, ehe ihnen die Erlaubnis erteilt wurde, in die Fremde zu ziehen – aus ihren anatolischen Dörfern ins ferne Europa. Bis es diesen Menschen schließlich gelang, Deutschland als ihre Heimat anzunehmen, vergingen viele Jahre, die einen hohen Preis forderten. Zahllose Lieder wurden gesungen, schwere Arbeiten wurden verrichtet und über allem schwebte das Heimweh.

Eine beschwerliche Zeit waren vor allem die Jahre von 1961 bis 1973, die die meisten der Arbeiter in “Heimen” verbrachten. Nach dem Familiennachzugsabkommen von 1974 bis in die 80er Jahren hinein entstanden aber immer neue Moscheevereine, die erste Hinweise darauf lieferten, dass ein Umdenken stattfand und sich die Türken mit einem langfristigen Aufenthalt in Deutschland anzufreunden begannen. Doch die Kultur, die die Gastarbeiter aus Anatolien mitgebracht hatten, entwickelte sich kaum weiter. Diese “eingefrorene Kultur” führte einen Kampf ums Überleben.

Während die erste Generation ihre Anfangsjahre in Deutschland noch überwiegend in Heimen verbrachte, konnte die zweite schon eine familiärere Atmosphäre genießen. Die Identität der dritten Generation wurde zusätzlich durch den Schulalltag geprägt. Die vierte Generation ist noch zu jung, um eine abschließende Bewertung vornehmen zu können, es besteht jedoch die Gefahr, dass sie in “Ghettos” aufwachsen wird, nämlich in stark von Türken besiedelten Stadtvierteln. Sie steht zwischen der türkischen Kultur der Eltern und der Kultur der deutschen Gesellschaft. Erst die Zukunft wird zeigen, ob sie eine Brückenfunktion zwischen diesen beiden Kulturen übernehmen oder sich ausschließlich einer Seite zuwenden wird. Meine Hoffnung geht dahin, dass diese Generation dank einer guten innerfamiliären Erziehung und eines angenehmen sozialen Umfelds in der Lage sein wird, eine starke Persönlichkeit zu entwickeln. Es wäre schön, wenn es ihr gelingen würde, die Kultur der Eltern in sich aufzunehmen und sich gleichzeitig mit der deutschen Kultur kritisch auseinander zu setzen. Dann werden sie auch zu einer eigenen Kultur finden.

Während Deutsche noch immer von einem Deutschland träumten, das nur von Deutschen bewohnt wird, kamen viele verschiedene Kulturen ins Land, die alle dazu beitrugen, dass eine multikulturelle Gesellschaft entstand.

Ein Bestandteil dieser multikulturellen Gesellschaft ist die islamische Kultur, deren Repräsentanten u.a. die oben erwähnten türkischen Gastarbeiter waren. Als problematisch für das Zusammenleben der Kulturen erwies sich vor allem, dass die einheimische Bevölkerung kein Interesse daran zeigte, diese Kultur näher kennen zu lernen. Obwohl sie doch viele große Zivilisationen in der Geschichte hervorgebracht hatte, reduzierte man sie auf vier oder fünf negativ besetzte Begriffe, was historisch bedingte Vorurteile noch verstärkte. Das Desinteresse der Deutschen war aber zum Teil auch damit zu begründen, dass die Menschen aus Anatolien es nicht schafften, eine dynamische Kultur zu verkörpern, in der eine gewisse Harmonie herrschte. Wie hätte ihnen das aber überhaupt gelingen können? Diese Menschen, die aus anatolischen Dörfern stammten und denen die deutsche Art zu leben in jeder Hinsicht fremd war, passten sich nicht der Gesellschaft an, sondern vielmehr ihren “Arbeitsplätzen”. Mit einer “Deutschländer-Kultur”, die sie aus ihrer 40-jährigen Lebenserfahrung in Deutschland bildeten, arrangierten sie sich mit ihrem Leben zwischen Haus und Arbeitsplatz. Obwohl die ersten “Gastarbeiter” große Sprachdefizite aufwiesen, genügte ihnen diese Minimalanpassung jahrelang, um ihren Alltag zu bewältigen. Ihr Verhalten führte jedoch zu einer Art Ghettoisierung; eine muslimische “Parallelgesellschaft” entstand, und Integrationsbestrebungen hatten und haben es schwer, daran etwas zu ändern. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Projekten, die die Integration von ‚Ausländern’ in die deutsche Gesellschaft fördern sollen. Eines von ihnen ist die Erteilung der “Islamischen Unterweisung” in deutscher Sprache. Natürlich sind diese Projekte für das harmonische Zusammenleben der Menschen sehr wichtig. Die Frage ist nur, ob sie nicht ein wenig spät kommen. Hätte man nicht ein bisschen mehr Interesse an einer fremden Kultur oder Gesellschaft aufbringen müssen, noch bevor eine solche Parallelgesellschaft entsteht? Hätte man nicht schon vor dem 11. September versuchen sollen, den Islam und seine Inhalte kennen zu lernen?

Im Laufe der 40 Jahre spitzten sich viele Probleme zu. Sprache und Religion wurden zu den Hauptangriffspunkten. Dies war eine logische Entwicklung. Daher sollte man sich bemühen, zunächst diese Probleme zu lösen und Unklarheiten aus dem Weg zu räumen. Vor allem Unwissenheit und Uneinigkeit, die größten Feinde der muslimischen Gesellschaften, stehen hier einer viel versprechenden Entwicklung im Wege. Vielleicht sind solche Probleme und Fehleinschätzungen aber auch einfach ganz normal. Schließlich ist es eine sehr schwierige Aufgabe, von Gastarbeitern zu Einheimischen zu werden bzw. diesen Prozess als Einwanderungsland zu begleiten. Meiner Meinung nach ist Migration ein sehr positives Phänomen, denn sie trägt zur dynamischen Entwicklung von Gesellschaften und Kulturen bei.

Inzwischen wächst die vierte Generation von Türken in Deutschland auf. All diese Generationen haben ihr Leben auf Bahnhöfen, bei den Geräuschen der Maschinen in den Fabriken oder auf Spaziergängen entlang des Rheins verbracht. Aber erst heute buchstabieren wir die Begriffe “Erziehung” und “Bildung” und erkennen deren Wert. Erst jetzt werden wir uns der “Migration zur Bildung” bewusst. Wir befinden uns noch am Anfang eines Prozesses, einer soziologischen Entwicklung, die auch viel Leid mit sich bringt. Erst seit kurzem, nachdem viele Menschen ihre Existenz auf spiritueller Ebene verloren haben und auf die schiefe Bahn geraten sind, hat ein Umdenken stattgefunden. Erst wenn Menschen und Gesellschaften nicht nur ihre materielle, sondern auch ihre geistige Existenz durch Erziehung und Bildung sichern können, ist der erste wichtige Schritt hin zu einer sicheren Zukunft gemacht. Die Türken haben fast 40 Jahre gebraucht, um zu diesem bedeutenden Punkt zu gelangen.

Die Deutschen haben uns die Chance gegeben, uns unseren Lebensunterhalt zu verdienen. Deshalb werden die Türken ihre Loyalität auch in Zukunft unter Beweis stellen und ihren Gastgebern danken. Sie werden aber nicht in ihre Heimat zurückkehren. Menschen, die ursprünglich nur zwei Jahre in Deutschland arbeiten wollten, ließen sich weder nach 20 noch nach 40 Jahren oder im Rentenalter in ihrer alten Heimat nieder. Denn sie haben diesem Land ihre Jugend und ihr Leben geopfert.

Einerseits verrichteten sie selbst schwerste Arbeiten zur vollen Zufriedenheit ihrer Arbeitgeber und stellten sich sehr gut auf die in Deutschland herrschenden Arbeitsbedingungen ein. Andererseits aber wurde recht bald deutlich, das dies auf die Dauer nicht genügen würde, um wirklich in Deutschland heimisch zu werden. Denn jeder Mensch besitzt neben seiner Arbeitskraft auch Gefühle, Gedanken, Kultur, Religion, Glauben, Kinder, Familien usw.. Ein friedvolles und integratives Zusammenleben von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen ist nur dann möglich, wenn all diese Faktoren mitberücksichtigt werden. Hier sind Erziehung und Bildung von entscheidender Bedeutung. Daher sollten alle Türen zu einer “Migration zur Bildung” geöffnet werden. Menschen, die heutzutage immer noch als “Ausländer” unterschätzt und diskriminiert werden, könnten sich dann an der Lösung der dringenden Fragen der Gesellschaft, in der sie leben, aktiv beteiligen.

Bildung fördert Dialogbereitschaft und Toleranz. Durch ein höheres Bildungsniveau und näheres Kennenlernen kann man eine dialogbereite Haltung zwischen verschiedenen Kulturen entwickeln.

In letzter Zeit konnte ich unter den Türken in Deutschland eine sehr viel versprechende Entwicklung beobachten: Nach 40 Jahren beginnt man endlich, sich hier zu Lande heimisch zu fühlen, weil zwei für die Integration sehr bedeutenden Begriffen immer mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die beiden Begriffe, die für eine Verbesserung des gesellschaftlichen Klimas sorgen, lauten “Erziehung” und “Kultur”. Die “Migration zur Bildung” kann entscheidend dazu beitragen, alle Probleme und offenen Fragen von Integration und Anpassung an der Wurzel zu bekämpfen bzw. zu lösen. Wenn ihr dies gelingt, besitzen auch und gerade so unterschiedliche Kulturen wie die türkische und die deutsche die Chance, sich gegenseitig zu ergänzen und harmonisch eine gemeinsame Zukunft zu gestalten. Dies ist mein Wunsch.

Fontäne, Januar-März 2002, Ausgabe 15

Letzte Aktualisierung: 7. Januar 2017
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