Erziehung & Bildung

Goodbye Handschrift?

Manchmal reicht es, wenn man eine winzige notwendige Lücke im gesellschaftlichen Leben entdeckt, um ein Buch zu verfassen, eine neue Erfindung zu machen oder etwas Wichtiges ins Leben zu rufen. Denn diese Lücke kann den Menschen zu neuen Fragestellungen und einem Selbststudium über ein Thema führen, so dass es am Ende aus einer breiten Perspektive behandelt wird. Das Buch, das die Kollegin Maria-Anna Schulze Brüning mit einem großen Engagement verfasst hat, entstand auf dieser Weise.

Sie hat die Problematik der unleserlichen Handschrift bei einer zunehmenden Zahl von Schülern festgestellt. Diese Beobachtung konnte sie auch in anderen Klassen machen und sich mit Kolleginnen und Kollegen darüber austauschen. Als Kunst- und Sprachlehrerin konnte sie natürlich die Schriftgewohnheit der Schüler gut analysieren und sich mit den Ursachen der Unleserlichkeit der Schriften gründlich auseinandersetzen.

Um diese zum Teil katastrophale Schriftentwicklung unter Schüler tiefgründig zu analysieren, führte sie empirische Untersuchungen zunächst an ihrer Schule und dann an anderen Schulen durch, mit dem erschreckenden Ergebnis, dass in den fünften und sechsten Klassen jedes sechste Kind nur kaum Entzifferbares zu Papier bringen kann. Mit dem Buch „Wer nicht schreibt, bleibt dumm – Warum unsere Kinder ohne Handschrift das Denken verlernen“ (Piper, 2017) möchte Maria-Anna Schulze Brüning nun Alarm schlagen und darauf aufmerksam machen, was es bedeutet, wenn Kindern das Fundament des Lernens entzogen wird und sie sich immer mehr mit digitalen Geräten die Zeit vertreiben.

       


Schüler sind nicht in der Lage, das Tafelbild ins Heft abzuschreiben

Dass das Denkvermögen bei den Schülern, die das Handschreiben nicht oder kaum erlernen und es frühzeitig durch die Tastatur ersetzen, schwächer wird, darüber gibt es etliche Studien. Und wenn etwa 17 % der Schüler beispielsweise nicht in der Lage sind, das Tafelbild richtig ins Heft abzuschreiben oder ihre eigenen Hefteinträge zu lesen, wird deutlich, wie sehr diese Kinder in ihrem gesamten Lernen beeinträchtigt werden.

Aus diesem Grunde gehe ich davon aus, dass das Buch von Schulze Brüning eine ertragreiche Diskussion auslösen wird. Denn sie behandelt das Thema aus vielen Perspektiven.

Lesen und Schreiben 1000 Jahre ein Monopol der Mönche

Im ersten Kapitel geht sie auf die historische und abenteuerliche Entwicklung der Schrift in Europa und darüber hinaus ein. Erst durch die Betrachtung der Schrift im historischen Kontext wird erkennbar, wie lebensnotwendig die Schriftkultur ist. Sie war/ist ein Machtfaktor:

„Überall in Europa, wo das Christentum Fuß fasst, machen sich die Mönche an die Arbeit. Zwar dürfen die klösterlichen Kopisten die Schriften weder verändern noch kommentieren, doch ihre schönen Schriftseiten stellen die ersten Bücher dar, in feinster Kalligraphie und mit wunderschönen Miniaturen illustriert. Vom zehnten Jahrhundert an hat jede Abtei und jedes Kloster eine eigene Schreibstube, das Skriptorium. Mehr als 1000 Jahre bleiben Lesen und Schreiben ein Monopol der Mönche.“ (S. 27)

Während sich die osmanischen Türken mit der Eroberung Konstantinopels beschäftigten, arbeitete Gutenberg „nach 1452 drei Jahre lang an seinem Mammutprojekt: dem Druck der Bibel, ein Buch mit 1200 Seiten, jede davon mit zwei Spalten und jeweils 42 Zeilen. Die Gutenberg-Bibel gehört heute zum Kulturerbe der Menschheit. Nur 200 Exemplare druckte Guttenberg vom Buch der Bücher. In jeder seiner auf Pergament gedruckten Bibeln steckten die Häute von etwa 300 Schafen.“ (S. 33)

Interessant ist hier aus meiner Perspektive: Als sich die osmanischen Türken wiederum mit Kriegen (1514 Schlacht gegen Safawiden bei Dschaldiran in Ostanatolien, 1516 Schlacht von Marj Dabiq bei Aleppo, 1517 Schlacht von Ridaniyya vor Kairo gegen das mamlukische Heer) beschäftigten, erhielten das geistige Leben und die Entwicklung in Deutschland „einen enormen Schub durch Martin Luther, der 1517 mit seinen Wittenberger Thesen wider den päpstlichen Ablasshandel und seiner ersten kompletten Bibelübersetzung ins Deutsche die Reformation auslöste. Dass er in seiner Schreibstube auf der Wartburg ein Tintenfass gegen den ihn bedrängenden Teufel geschleudert haben soll, ist nur eine hartnäckige Legende. Doch symbolisch macht sie durchaus Sinn: Immerhin schuf Luther nicht nur eine ganz neue, radikale Auffassung vom Christentum, er markiert auch das Ende der mittelalterlichen Welt und den Anfang der medialen Neuzeit. Luther erfand überhaupt erst eine allgemein anerkannte neuhochdeutsche Sprache, er und seine Mitstreiter nutzten das neue Medium des Buchdrucks in revolutionärer und propagandistischer Weise – und eine erste deutsche Alphabetisierungswelle folgte ebenfalls.“ (S. 35)

 

 

Im Gegensatz zum osmanischen Reich ist diese geistige Welle dank der verantwortungsbewussten Denker, Dichter, Künstler, Philosophen, Literaten, Wissenschaftler in Zeiten der Renaissance, der Aufklärung oder der Industrierevolution nie zum Stillstand gekommen. Das Ergebnis: „Anfang des 20. Jahrhundert hatten fast alle Deutschen, ob sie nun auf den Bauernhöfen, im Bergbau oder in den Fabriken arbeiten, in der Volksschule eine Handschrift erlernt, die man lesen konnte. Nur die sprichwörtlichen Arzthandschriften galten als unleserlich.“ (S. 48)

Aber die digitale Revolution in der Gegenwart beeinflusst die Menschen bzw. Gesellschaften anders als die Erfindung der Schrift oder der Druckerei. Heute sieht man schon nach kurzer Zeit – noch nicht mal ein halbes Jahrhundert ist vergangen – die negativen Nebenwirkungen in der Erziehung, beim Lernen sowie im sozialen Leben. Eine davon ist der Niedergang der Handschrift.

Schlechte Handschrift beeinträchtigt das Lernen

„Der allmähliche Verfall der Handschrift ist ein für die Gesellschaft insgesamt folgenreiches Problem, weil es das Lernen in unseren Schulen massiv beeinträchtigt.“ stellt Schulze Brüning fest und geht den Ursachen auf den Grund:

„Wenn es weder eine Frage der Intelligenz noch eine Frage der sozialen Herkunft ist, ob ein Kind eine lesbare Handschrift erlernt oder nicht, woran liegt es dann? An motorischen Störungen? Die gibt es sicherlich auch und die hat es immer gegeben. In den allermeisten Fällen ist es jedoch eindeutig eine Frage der Vermittlung! Und dabei geht es um zweierlei: um den Stellenwert der Handschrift im Bildungskanon und um die konkrete Didaktik.“ (S. 50)

 


Tastatur oder Handschrift?

So hat der Stellenwert der Schriftvermittlung seit den Sechzigerjahren kontinuierlich abgenommen. Handschrift als Unterrichtsgegenstand ist inzwischen marginalisiert und auch in der Lehrerausbildung kein Thema mehr. (S. 59) Schulze Brüning kritisiert die didaktische Verantwortungslosigkeit, wenn Kinder beim Handschrifterwerb allein gelassen werden und sie sich falsches Schreiben angewöhnen. Eine flüssige Schrift wird so von Anfang an verhindert.

Die Autorin räumt auch auf mit der Illusion, die Druckschrift als Erstschrift sei doch eine Vereinfachung und könne quasi spielerisch erworben werden. Sie macht deutlich „Die Druckschrift ist zwar leicht zu lesen, aber keineswegs leicht zu schreiben.“

 


Wie schreibt man eine gute Handschrift?

Denn korrekte Bewegungsrichtungen, die Schüler sich aneignen müssen, sind die wichtigste Voraussetzung für eine funktionierende Druckschrift. Und da bieten die Einzelbuchstaben unzählige Möglichkeiten, falsch anzusetzen. An vielen Beispielen wird verdeutlicht, wie „kreativ“ Kinder sich die Buchstaben erarbeiten und damit letztendlich scheitern. Sie schaffen es mit ihrer falschen Schreibweise nicht, die Einzelelemente formstabil zu schreiben und die Größen und Abstände, die ebenfalls für die Leserlichkeit der Schrift unerlässlich sind, zu kontrollieren.

Schulze Brüning plädiert für eine systematische Vermittlung der Handschrift und gibt in ihrem Buch viele konkrete Beispiele, wie man Buchstaben und Grundbewegungen des Schreibens trainieren kann (und muss). Denn Handschrift ist Bewegung und die erfordert wie beim Sport gezieltes Training.

In diesem Buch wird die Handschrift aber nicht nur als reines Mitteilungsinstrument gesehen. Besonders eindrucksvoll formulieren die Schüler selbst in einer Befragung, was ihnen die Handschrift bedeutet. Die Handschrift ist Teil der Persönlichkeit und wird wie eine Eigenschaft bewertet. Und die Schüler nennen auf Platz 1 den Wert der Handschrift für das Erinnern: „Wenn man mit der Hand schreibt, lernt man schon die Hälfte.“

 


Lösung Handschrift!

Die Frage oder die Herkulesaufgabe angesichts des folgenschweren Handschriftverfalls ist jetzt: Wie kann man gegensteuern? Darauf gibt das Buch eine Antwort: Die Handschrift muss schlicht und einfach wieder gelehrt werden, und zwar als erstes. Ohne richtige, nachhaltige Entscheidung der Bildungspolitik sehe ich da jedoch keine Chance. Ich glaube, die Handschriftproblematik ist Folge von vielen sozio-psychologischen Problemen, an denen auch die Digitalisierung zum Teil beteiligt ist. Umfassend ist dabei eines: Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss, so Kant. Das betrifft nicht nur das Erlernen des Kulturguts Handschrift. Schule muss in verstärktem Maße Verantwortung für die Erziehung übernehmen und Maßstäbe setzen, gerade weil es viele Elternhäuser nicht mehr tun – insbesondere im Zeitalter der Digitalisierung. Denn Erziehung können nicht Programme und Algorithmen übernehmen, sondern nur Menschen. Auch das wird in diesem Buch deutlich.

Zusammenfassend kann man sagen: Von der historischen Entwicklung und Bedeutung der Schrift bis zur Darstellung der aktuellen Problembereiche der Druckschrift, der Entwicklung der Schreibschrift und der praktischen Anwendung der Handschrift im Unterricht ist dieses Buch nicht nur ein informatives Nachschlagewerk, sondern eine solide Diskussionsgrundlage für eine grundlegende Reformierung des Handschrifterwerbs und regt an, die Digitalisierungseuphorie kritisch und mit anderen Augen zu sehen.

Muhammet Mertek

Letzte Aktualisierung: 7. August 2017
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