Erziehung & Bildung

Unwissenheit – Einfallstor des Salafismus?

Eine muslimische Oberstufenschülerin braucht zwei Stühle im Klassenraum. Auf einem sitzt sie selbst, auf dem anderen liegt ihr Koran. Ich weiß nicht, warum sie ihren Koran mit in die Schule bringt. Kein Kommentar. Angeblich darf sie das heilige Buch in ihrer Tasche nicht an einem Ort unterhalb ihres Bauchnabels positionieren, weil es Sünde sei. Auf dem Tisch geht dies auch nicht. Bleibt nur noch ein Extrastuhl. Da betritt ein verspäteter Schüler den Klassenraum und sucht einen freien Platz. Und der einzig freie Platz ist der Stuhl, auf dem das heilige Buch liegt. Was tun? Sie weigert sich, ihren Koran wegzulegen, sodass der Schüler einen anderen Stuhl aus der Nachbarklasse holen muss.

In einem Krankenhaus höre ich plötzlich den islamischen Gebetsruf. Als ich mich erstaunt umschaue, stelle ich schnell fest, dass er aus dem Smartphone eines jungen Mannes kommt.

Es passiert nicht selten, dass junge Menschen zum Zeichen ihres Bekenntnisses zum Islam bei jeder Gelegenheit bestimmte islamische Begriffe oder Formulierungen nicht zum Überhören von sich geben. Meistens unnötig und übertrieben, wie z.B. Bismillah (Im Namen Gottes!), Wallah (Ich schwöre bei Gott!), Allahu akbar (Gott ist groß!), Salam alaikum (Friede sei mit dir/euch!), Maschaallah (Wie es Gott beliebt!), Inschaallah (So Gott will!) und Ähnliches.

Was für Gemeinsamkeiten haben diese Beispiele? Schein oder Äußerlichkeit. Religiöse Erfahrungen sind normalerweise etwas Subjektives. Eine innere Reise des Individuums zu Gott. Im Privatleben kann man seine innere Reise durchführen und nach seinem Glück suchen. Das ist kein Problem. Aber bei vielen Muslimen steht der äußere Schein im Vordergrund. Die Erfahrung zeigt: Wer über kein strukturiertes Grundwissen oder reflektiertes Wissen verfügt, neigt automatisch dazu, dem Schein eine übertrieben große Bedeutung zuzumessen.

Von solch einem Phänomen sind auch die meisten Salafisten und Islamisten betroffen, die den Islam als eine Ideologie wahrnehmen. Daher scheint der Übergang der auf Oberflächlichkeit und Symbole reduzierten Religiosität zum Salafismus fließend zu sein. Beide tun sich als eifrige Verteidiger des Islams hervor, haben aber Defizite im logischen Denken und im demokratisch-zivilisatorischen Umgang mit Andersdenkenden. Sie halten sich für allwissend, auch ohne Bücher über den Islam, die islamische Geschichte oder die islamische Kultur zu lesen. Wenn der renommierte, 2004 in Deutschland in Exil verstorbene Schriftsteller Ilhan Bardakçı gelegentlich über das türkische Volk sagte: „Wir sind ein Volk, das ohne Schreiben zum Autor und ohne Studium zum Gelehrten wird.“, hatte er also recht.

In diesem Spruch wird, so denke ich, die tiefere Dimension der Unwissenheit und des nicht selbstständigen Denkens sehr gut erkenntlich. Und er lässt sich problemlos auf Salafisten übertragen.

Was es heute mehr denn je braucht, ist Grundwissen über den Islam. Muslime sollten sich mit ihrer Religion auseinandersetzen, um sich und ihre Kinder vor rückständigen, menschenverachtenden Ideologien zu schützen. Doch auch Nichtmuslime sollten versuchen, sich ein gewisses Grundwissen über diese Religion anzueignen, um Pauschalisierungen und islamfeindliche Einstellungen zu vermeiden.

Darüber hinaus wäre es natürlich wünschenswert, wenn sich vor allem Lehrkräfte ein bisschen kundig machen würden, damit sie ihre Schüler besser kennenlernen und darauf achten können, dass diese keine Diskriminierungserfahrungen machen, die einen wichtigen Grund für Radikalisierung darstellen.

Salafismus und Islamismus sind zwei Begriffe, die vieles gemeinsam haben. Sie besitzen die gleichen Grundeigenschaften. Die Anhänger beider Strömungen spalten die Welt in Schwarz und Weiß. Für sie gibt es nur zwei Gruppen von Menschen auf der Welt: zum einen sie selbst, nämlich die Gläubigen, zum anderen den Rest der Menschheit, nämlich die Ungläubigen.

Das wichtigste Heilmittel gegen diese extremistischen Richtungen besteht darin, mit bodenständiger religiöser Bildung und Aufklärung ein Bewusstsein für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Vielfalt und Pluralismus zu wecken.

Muhammet Mertek

Letzte Aktualisierung: 25. Januar 2017
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