Erziehung & Bildung

Deutsch-Türkische Familienwelten

Familie spielt für die meisten Menschen eine sehr wichtige Rolle. Familien in Deutschland – das sind immer öfter auch Eltern und Kinder unterschiedlicher Herkunft, Mehrsprachigkeit, Migration. Nahezu jede vierte Familie hat mindestens ein Familienmitglied, das aus einem anderen Land stammt oder eine andere Staatsangehörigkeit besitzt. 35 Prozent der Kinder unter fünf Jahren haben einen Migrationshintergrund.

Welche Vorstellungen, Bilder haben Menschen heute von Familie, welche Einflüsse prägen das Zusammenleben, den Alltag der Generationen und wie sind kulturelle und religiöse Einflüsse zu beschreiben? Diesen Fragen sucht die Veranstaltung im Gespräch von Christen und Muslimen nachzugehen.

Nach dem Abendessen werden Expertinnen und Experten aus den Bereichen Schule, Beratung und Hochschule ihre Erfahrungen aus der beruflichen Praxis ins Gespräch einbringen.

Türkische Familienwelt

Wenn wir über Familienwelten sprechen, dann müssen wir beachten, dass auch in türkischen Familien unterschiedliche Familientypen vorhanden sind. Wie z.B.:

1) Extrem fürsorglicher Umgang
2) Autoritärer Umgang
3) Kind-Zentrierter Umgang
4) Inkonsequenter Umgang
5) Perfektionistischer Umgang
6) Ausgewogener (gesunder) Umgang

Die Scheidungsrate steigt in letzten Jahren immens an. Man schätzt etwa 30 %, Tendenz steigend.

Auf die Frage „welche Einflüsse prägen den Alltag der Generationen?“ kann ich mit einem Wort antworten: Medien. Viele Kinder leiden heute unter einer Sozialphobie und mangelndem Selbstvertrauen. Hierzu tragen vor allem TV und Computer bei. Die Kinder kommunizieren zu wenig mit ihren Eltern oder Geschwistern. Eine kleine Untersuchung von mir hat ergeben, dass jedes türkische Kind im Sekundarstufe 1-Bereich wöchentlich durchschnittlich 8 TV-Serien anschaut.

Am besten kann man den Querschnitt der türkischen Familienlandschaft in Deutschland an Gesamtschulen vorfinden.

Nach meiner Beobachtung pflegen gerade mal 10-15 % der türkischen Eltern mit der Schule eine angemessene Beziehung. An informativen Elternabenden über besondere Angebote an der Schule haben viele kein Interesse. Beispielsweise, wenn es darum geht, Informationen über Musik-Klassen, bilingualen Unterricht, WP-Angebote usw. zu erteilen, erscheinen viele nicht.

Zugleich glauben viele Eltern, dass für das schulische Scheitern ihrer Kinder die deutschen Lehrer oder Schulleitung schuld seien. Die Vorwurf und Vorurteil beladenen Schuldzuweisungen sind nicht selten: Die Deutschen würden nicht wollen, dass die türkischen Kinder weiter kämen.

Die Eltern, die ich aus dem schulischen Kontext kenne, stammen hauptsächlich aus dem religiös-verwurzelten Milieu und dem traditionellen Arbeitermilieu. Hauptmerkmale dieser Milieus sind niedriges Einkommen und Orientierung an konservativ religiösen und ethnischen Werten.

Fokussiert man die Frage auf die sogenannte Bildungsferne von Türken, dann geht es weitgehend um diese vier Milieus:

  • Religiös-verwurzeltes Milieu: 19%
    (Vormodernes, sozial und kulturell isoliertes Milieu, verhaftet in den patriarchalischen und religiösen Traditionen der Herkunftsregion)
  • Traditionelles Arbeitermilieu: 14%
    (Milieu der Arbeitsmigranten, das nach materieller Sicherheit für sich und seine Kinder strebt)
  • Entwurzeltes Milieu: 9%
    (Sozial und kulturell entwurzeltes Milieu, das Problemfreiheit und Heimat/Identität sucht und nach Geld, Ansehen und Konsum strebt)
  • Hedonistisch-subkulturelles Milieu: 18%
    (Unangepasstes Jugendmilieu mit defizitärer Identität und Perspektive, das Spaß haben will und sich den Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft verweigert)

Diese umfassen etwa 55-60% der Türken in Deutschland. Sie werden mir sicherlich zustimmen, dass die gelebte Wirklichkeit viel komplexer ist als es hier in dieser Studie gezeigt wird. Weil sie darüber hinaus noch verschiedene biographische, sozioökonomische und soziokulturelle Faktoren beinhalten.

Meines Erachtens gibt es große Probleme in der innerfamiliären Erziehung. Ich möchte hier einen Punkt besonders unterstreichen: Viele Türken aus den oben genannten Milieus sind sich nicht darüber im Klaren, wie das deutsche Bildungssystem funktioniert. Dementsprechend können sie ihre Kinder auch nicht unterstützen und fördern.

Die meisten Eltern von Migrantenkindern sind heutzutage bei der Erziehung ihrer Kinder überfordert. Vier Probleme erscheinen mir besonders wichtig:

  1. Manche von ihnen verfügen nur über einen niedrigen Bildungsstand und bloß über mündlich überlieferte Kenntnisse ihrer eigenen Kultur, Religion und Geschichte.
  2. Sie sprechen teilweise noch schlechter Deutsch als ihre Kinder und sind daher auch nicht in der Lage, ihren Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen.
  3. In vielen Elternhäusern bestehen Generationenkonflikte im kulturellen und sozialen Bereich, die besonders aus der Konfrontation von traditioneller familiärer Atmosphäre und einheimischen gesellschaftlichen Werten auf der einen und dem Alltag der Moderne auf der anderen Seite entstehen. Die Konflikte sind also religiös und kulturell aufgeladen.
  4. Viele Eltern geben deshalb irgendwann auf und kümmern sich gar nicht mehr um ihre Kinder und setzen ihnen auch keine Grenzen.

Aus dieser Aufzählung geht noch einmal deutlich hervor, wo die Eltern ansetzen können: Auch wenn es an der innerfamiliären Erziehung hapern mag, müssen die Eltern die sprachliche Entwicklung ihrer Kinder im Auge behalten und durch geeignete Maßnahmen unterstützen. Sie dürfen die innerfamiliäre Erziehung auf keinen Fall vernachlässigen, weil die Schule allein nicht in der Lage ist, die Kinder zu erziehen. Sie sollten immer Kontakt zu den Klassenlehrern ihrer Kinder halten, und sich nicht erst dann mit ihnen in Verbindung setzen, wenn Probleme auftauchen. Sie sollten dafür sorgen, dass ihre Kinder die Hausaufgaben machen. Wenn sie selbst ihnen dabei nicht helfen können, sollten sie mit den Lehrern nach Lösungen suchen. Ebenfalls wichtig ist, dass sie sich an der Schule regelmäßig über das Sozialverhalten ihrer Kinder informieren. Eine gute Gelegenheit dafür bieten Elternsprechtage. Ein Ausflug in die Stadtbücherei lohnt sich für Eltern und Kinder gleichermaßen. Also sollten sie zusammen losziehen. Wenn Erwachsene hier eine Vorbildfunktion erfüllen, werden Kinder dadurch zum Bücher-Lesen ermuntert. Bücher zu lesen ist keine lästige Pflicht, sondern kann schön, interessant und unterhaltsam sein.

Resultat der fehlenden familiären und gesellschaftlichen Zuwendung sind unterschiedliche Arten von Verhaltensstörungen. Viele Kinder sind desorientiert und haben keine Vorbilder, die für die Gesellschaft in irgendeiner Hinsicht nützlich wären. Sie sind in gleich zwei Kulturen bewandert, in beiden jedoch auf niedrigem Niveau. Sie bilden Subkulturen mit problematischen, zum Teil illegalen Tendenzen. Sie leiden darunter, dass sie zwischen zwei oft ganz unterschiedlichen Kulturen pendeln. Ihr Charakter entspricht oft nicht ihrem Lebensalter, was sich auch in ihrem Verhalten niederschlägt. Diese Entwicklungen müssen auch die Eltern wahrnehmen und dementsprechend agieren, bevor es zu spät wird.

Wenn Migrantenkinder und insbesondere die türkischstämmigen Kinder in Zukunft bessere Chancen in der Gesellschaft erhalten sollen, dann müssen sich zunächst einmal ihre Eltern bewegen. Bei ihnen liegt die größte Verantwortung. Das heißt im Umkehrschluss aber auch, dass sie am meisten Einfluss auf ihre Kinder nehmen können. Wenn sich derzeit viele Eltern nicht in der Lage sehen, diese Verantwortung zu tragen und ihren Kindern eine gute Erziehung zu bieten, dann müssen sie von der Schule, von Bildungsinstitutionen und von Vereinen unterstützt werden.

Wie kann man den türkischen Kindern diese Werte am besten nahe bringen? Gerade auf diesem Gebiet gibt es meiner Meinung nach in der jüngeren Vergangenheit sehr positive Entwicklungen: Viele Bemühungen z.B. in Vereinen, Moscheen und Familien konzentrieren sich darauf, islamische Werte und Inhalte anschaulich, lebensnah und auch in deutscher Sprache zu vermitteln. Dabei wird außerdem darauf geachtet zu zeigen, dass das vermittelte Wissen sehr gut in eine moderne demokratische Gesellschaft passt und keineswegs gegen irgendwelche Gesetze oder Werte der Mehrheitsgesellschaft verstößt. Diese Bemühungen existieren durchaus und nehmen immer breiteren Raum ein, nur werden sie von den meisten Medien weitgehend ignoriert. Dabei hätten sie es doch verdient, respektiert und gewürdigt zu werden.

Nicht nur die Eltern von Migrantenkindern, sondern alle Eltern in der Gesellschaft sollten sich verstärkt darum bemühen, ihren Kindern Werte zu vermitteln, die für den Zusammenhalt der Gesellschaft wichtig sind. Respekt vor der Kultur, Religion und Mentalität des jeweils anderen und die Bedeutung von Dialog und Toleranz können gar nicht oft genug thematisiert werden. Damit sollte so früh wie möglich begonnen werden. Denn je älter die Kinder werden, desto schwieriger wird es. Meiner Beobachtung nach haben die meisten Kinder in der deutschen Gesellschaft zwar in materieller Hinsicht kaum Probleme, in spiritueller, seelischer Hinsicht jedoch sehr große. In der Gesellschaft, in der wir leben, macht sich der Verlust der Werte zunehmend negativ bemerkbar. Trägt hier vielleicht unsere individualistische Konsum- und Wohlstandsgesellschaft die Schuld? Auch die türkischen Kinder sind von dieser Gesellschaft, in die sie hineingeboren werden und in der sie aufwachsen, geprägt. Ich möchte hier jedoch keine Schuldzuweisungen machen, sondern vielmehr versuchen, den Ursprung der Probleme richtig zu diagnostizieren. Denn meistens werden einfach alle türkischen Kinder mit all ihren vermeintlich ‚türkischen’ Problemen in einen Topf geworfen. Die gesamtgesellschaftlichen Gründe für ihr Verhalten bleiben allzu oft unberücksichtigt.

Muhammet Mertek

Letzte Aktualisierung: 15. Januar 2017
Zur Werkzeugleiste springen